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A book a day keeps the doctor away. Oskar Werner am Set von François Truffauts "Fahrenheit 451" (1966).

© IMAGO

Online-Magazin "Tell": Max und Moritz im Salon

Was tun gegen den schwindenden Platz für Literaturkritik? Sieglinde Geisel versucht mit dem Online-Magazin "Tell" eine Antwort darauf.

Von Gregor Dotzauer

Die rituellen Klagegesänge über die Krisenhaftigkeit des literarischen Lebens bringen es mit sich, dass sie meist wenig Konkretes mit sich bringen. Man könnte, man müsste, man sollte, lautet ihr Refrain, und selbst wenn sich daraus das Projekt eines „zentralen Umschlagbahnhofs für alle literarischen Waren“ ergibt, wie es Wolfram Schütte vor einem guten Jahr in seinem Essay „Über die Zukunft des Lesens“ auf perlentaucher.de formulierte, ist es mit der Umsetzung so eine Sache. Vielleicht krankte die Idee eines Verlage, Autoren und Kritiker vereinenden Netzmagazins namens „Fahrenheit 451“ (in Erinnerung an Ray Bradburys gleichnamigen Roman, der von der Buchlektüre als einem politischen Verbrechen erzählt) schon daran, dass sie von einer unanfechtbaren Instanz nach dem Verlust aller Instanzen träumte. Im Reich des Gedruckten ist sie verloren, in demjenigen des Digitalen nicht einzuholen. Eine mediale Multitude hatte ihr janusgesichtiges Haupt erhoben, der sich zu versichern bereits den entscheidenden Gewinn der anschließenden Debatte ausmachte.

Einer Beiträgerin, der in Berlin lebenden Schweizer Kritikerin Sieglinde Geisel, ging Schüttes Traum jedoch nicht mehr aus dem Kopf. Mit „Tell“, ihrem mit einem fünfköpfigen Team von Bloggern, Journalisten und einem Übersetzer entwickelten „Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft“ (tell-review.de) betreibt sie seit dem Frühjahr einen „digitalen Salon“. Nach Umfang und selbstausbeuterischer Ausstattung zu urteilen, macht er nicht den Eindruck, dass aus ihm einmal jener alle zusammenführende Club entstehen könnte, als der „Fahrenheit 451“ gehandelt wurde. Aber in seinem nur der eigenen Neugier verpflichteten Programm, das die Kunst der Kritik am liebsten im Detail übt, hat er einen eigenwilligen Charme. Verlagsblogs wie resonanzboden.com (Ullstein), tausendaugen.rowohlt.de, hundertvierzehn.de (S. Fischer) oder logbuch-suhrkamp.de bleiben bei allen Freiheiten der Form eben doch den Hausautoren verpflichtet.

Unterweisungen in genauem Lesen gibt zum Beispiel die Reihe „Satz für Satz“. Sie untersucht, was die Stimmigkeit literarischer Texte ausmacht oder die Glaubwürdigkeit ihrer Figurenrede. Ein großer Spaß auch der von Ford Madox Ford übernommene Page-99-Test, der Bücher bekannter Autoren an just jener Stelle aufschlägt und ihnen eine Gesamtqualität ablesen will. Im Fall von Maxim Biller und Garth Risk Hallberg geht das für die unmittelbaren Probanden übel aus, im Fall von William Gaddis’ „JR“ für die Übersetzer: Man mag kaum glauben, welchen unverständlichen Bullshit Marcus Ingendaay und Klaus Modick dem deutschen Leser zumuten. Allgemein sind Fragen der Übersetzung eine Stärke von „Tell“ – ob sich Raffael Keller in einer vierteiligen Reihe mit Interlinearversionen des tangzeitlichen Dichters Li Shangyin annimmt oder Mark Ledsom darüber Auskunft gibt, wie Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ in ein zeitgenössisches Englisch kommt. Dazu kommt klassisch Rezensentisches, Berichtendes und Kommentierendes zu einer Vielzahl von Autoren aus aller Welt.

Mit Wolfram Schütte, einst Redakteur der „Frankfurter Rundschau“ und ihrer einflussreichen, längst untergegangenen Wochenendbeilage, teilt Sieglinde Geisel, die regelmäßig für die „NZZ“ schreibt, eine journalistische Erziehung im Printbereich und die späte Entdeckung digitaler Verheißungen. Dieses Zwitterhafte ist dem Projekt im Guten wie im Schlechten anzusehen. „Tell“ nutzt zwar Vorzüge der Form (Austausch mit erstaunlich substanziellen Kommentatoren, Ad-hoc-Erweiterung ohne Redaktionsschluss, Wegfall von Druck- und Vertriebskosten), lebt aber auch mit einigen Nachteilen (mangelnde Gewichtung der Texte, wachsende Unübersichtlichkeit). Jedenfalls handelt es sich um ein Projekt, das nicht so beschaffen ist, dass es nicht auch gedruckt funktionieren würde – zumal die Bücher, mit denen sich „Tell“ auseinandersetzt, gewiss nach wie vor auf Papier gelesen werden. Wenn sich – finanzielle Unterstützer werden gesucht – einmal fließende Übergänge zwischen Print und Online entwickeln würden, hätte „Tell“ gute Chancen, in beiden Sphären eine gute Figur zu machen.

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