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Siegerlächeln. Ralph Tharayil

© imago/gezett

Open Mike 2017: Blauer Himmel, schreiende Kinder

Der in der Schweiz geborene Berliner Autor Ralph Tharayil gewinnt mit seinem Text „Das Liebchen“ den Open Mike 2017

„Nichts ist so ungeeignet für einen Wettbewerb wie die Literatur.“ Bevor Ingo Schulze am Sonntagnachmittag den ersten Gewinner des diesjährigen Open Mike verkündet, verweist er auf das Sportliche eines Wettbewerbs. „Gleichzeitig hat der Literaturwettbewerb eine lange Tradition, schon in der Antike stritten sich die Dichter auf der Bühne.“ Schulze ist neben Olga Grjasnowa und Nico Bleutge einer der Juroren des Open Mike, der am Wochenende zum 25. Mal im Heimathafen Neukölln stattgefunden hat. Gleich drei Gewinner bestimmt die Jury am Ende, ganz im Geiste des Fairplays: Ronya Othmann (Lyrik), Ralph Tharayil und Mariusz Hoffmann teilen sich das Preisgeld von 7500 Euro, der Publikumspreis der „taz“ geht an Baba Lussi.

Der „Wettbewerb für junge Literatur“, wie der Open Mike sich nennt, zählt zu den wichtigsten Nachwuchswettbewerben im deutschsprachigen Raum. Talente bis zum Alter von 35 Jahren, die noch kein Buch veröffentlicht haben, können Texte einreichen. Alleine die Teilnahme an der Endrunde verspricht wertvolle Kontakte zu Verlagen, Literaturagenturen sowie anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. „Für die Autoren ist der Open Mike eine riesige Chance, weil sie dadurch in das Netzwerk des Literaturbetriebs kommen“, sagt Florian Kessler, Lektor im Hanser Verlag und einer im sechsköpfigen Lektorenteam. Aus 580 Einsendungen wurden 20 Texte für den Wettbewerb ausgewählt, die Finalisten dürfen maximal 15 Minuten vortragen.

Die Hälfte der Finalisten kommt aus Schreibschulen

Ungefragt eingereichte Manuskripte hätten es laut Kessler heute schwer, stattdessen gebe es zunehmend mehr Literaturagenturen, die junge Schreibtalente an Verlage vermitteln. Die Professionalisierung des deutschsprachigen Literaturbetriebs werde von Jahr zu Jahr höher.

Obwohl das Auswahlverfahren für den Open Mike anonym erfolgt – die Lektoren sehen nur die Texte, nicht die Biografien der Autoren –, haben sich auch dieses Jahr Autoren wieder durchgesetzt, die im Literaturbetrieb schon bekannt sind. Ronya Othmann und Ralph Tharayil haben Preise gewonnen, Texte in Zeitschriften veröffentlicht. Mariusz Hoffmann studiert in Hildesheim, wie überhaupt die Hälfte der Finalisten von Schreibschulen kommt, auch aus Leipzig oder dem schweizerischen Biel. „Es ist eine Utopie, dass ein junger, wilder Autor erscheint, der völlig unbefleckt von diesem Betrieb ist. Die Reifung in der Literatur dauert lange“, so der für Lyrik verantwortliche Lektor Christian Döring. Die Professionalisierung betrachtet er mit gemischten Gefühlen: „Die Autoren sind immer gebildeter und vernetzter. Sie treten mit großer Selbstsicherheit auf, vor 20 Jahren waren sie oftmals noch vorsichtiger. Manchmal ist das vielleicht ein Verlust, denn Unsicherheit ist immer gut. Schwankender Boden, ein unsicheres Terrain befördern das Schreiben.“

Baba Lussi erliest sich den Publikumspreis

Die inhaltliche und stilistische Vielfalt der in diesem Jahr vorgetragenen Texte zumindest widerspricht dem Vorurteil, dass die Schreibschulen nur Einheitsprosa produzieren. Die Geschichten spielen am Meer, auf dem Land und in der Stadt, in München, Polen und den USA, es sprechen Schrankenwärter, Möchtegern-Verrückte und ein Obdachloser. Eine junge Frau lässt die Öffentlichkeit an einem Telefongespräch über ihr letztes Date teilhaben. Und Armin Wühle erzählt in seinem Text „Leuchtquallen“ von toten Menschen, die anstelle toter Quallen an Griechenlands Küste angespült werden.

Baba Lussi schildert in „So kommt's“ eine unerhörte Begebenheit mit dem Fremden, für die sie verdient den Publikumspreis gewinnt. Ein Unbekannter sitzt plötzlich im Wohnzimmer der Erzählerin. Man weiß nicht, ob man diese charmant oder gefährlich naiv finden soll, wie sie da über ihre Situation nachdenkt, eine höchst rhythmisierte, amüsante und fesselnde Erzählung. Ralph Tharayils Gewinnertext „Das Liebchen" wiederum spielt von Anfang an mit Gegensätzen: „Der Himmel war blau, und die Kinder schrien wie am Spieß.“ Das Nebeneinander von Idylle und Gewalt, Orient und Okzident, zieht sich auf verstörend faszinierende Weise durch den Text. Schnell habe sich die Jury auf Tharayils Text einigen können, er sei ein „literarisches Versprechen, eine Erzählung, in der die Widersprüche unserer Welt in einem grellen Licht erscheinen“, begründet Ingo Schulze die Jury-Entscheidung. Ralph Tharayil, ein in Berlin lebender Schweizer mit indischen Eltern, spiegelt in seiner Person und seiner Erzählung eine zeitgemäße Diversität wider.

Fair und freundschaftlich geht es hier zu

Der Open Mike ist nicht Klagenfurt, hier werden die Autoren nicht wie beim Bachmann-Wettbewerb mit harten Worten von Literaturkritikern bewertet. Fair und freundschaftlich geht es zwischen Jury, Lektoren, Finalisten und dem Publikum zu. Die Laudatio der Jury wie auch die abschließenden Worte der Lektorin Juliane Schindler verstärken den wohlwollenden, ermutigenden Charakter der zweitägigen Veranstaltung: „Verzagt nicht. Sucht euch Verbündete. Wir brauchen euch, eure Sicht auf die Welt, die Glücksmomente, die ihr mit euren Gedanken auslöst.“ Jurorin Olga Grjasnowa, die bislang drei Romane veröffentlicht hat, berichtet, dass sie sich dreimal erfolglos beim Open Mike beworben hat – was letztlich nur für diesen Wettbewerb spricht. Wie auch die Liste der inzwischen etablierten Preisträger und Preisträgerinnen von Katrin Röggla über Karen Duve und Terézia Mora bis hin zu Tilman Rammstedt.

Anne Sophie Schmidt

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