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Theater und sein Publikum.

© dpa

Oper: Grabenkämpfe

Ihr da oben, wir hier unten: Das Theater und sein Publikum verstehen sich immer weniger. Versuch einer Wiedervereinigung.

Versprochen: Ab heute wird alles anders. Und besser natürlich. Denn diesen Text, geneigte Leserinnen und Leser, werden Sie von der ersten bis zur 379. Zeile verstehen. Kein Hochkulturkauderwelsch, kein schnöseliges star dropping, kein Fachchinesisch à la „Pizzicato“, keine diskriminierenden Fremdwörter wie „Ricochet-Technik“ oder „Spianato-Stil“. Und keine langfädigen Betrachtungen über die Opernregie-Ästhetik X oder Y, die außer dem Regisseur und seinem Kritiker ohnehin kein Schwein kennt. Nichts von alledem. Lesen Sie Musikkritiken? Opernkritiken? Haben Sie es jemals getan oder haben Sie vor, es zu tun? Falls nein: warum nicht? Falls ja: Verstehen Sie, was Sie da lesen? Joachim Kaiser zum Beispiel über den Jahrhundertpianisten Sviatoslav Richter, anno 1965: „Richter fühlt, dass man eine Mendelssohn-Melodie weder so antik getragen nehmen darf wie ein Beethovensches Adagio noch so Jean-Paulisch weltverzaubernd wie Schumannsche Poesie“. So durfte man 1965 also noch schreiben – und wurde verstanden. Oder nahm jedes Unverständnis generös in Kauf. Der Fall in die Gegenwart ist tief und schmerzhaft. Unlängst hörte ich die Kollegin eines Kultursenders den zweiten Satz des F-Dur Streichquartetts von Maurice Ravel dergestalt anmoderieren, dass sie sagte, die vielen Pizzicati (= Plural) in dieser Musik hätten nichts mit dem Pizza-Hunger des Komponisten zu tun. Wahrscheinlich wollte die Kollegin lustig sein. Zur Aufklärung oder Bildung des RadiohörerInnenvolkes hat sie damit ebenso wenig beigetragen wie jener unglückliche Moderator, der einst ein Klavierkonzert von Robert Schumann ankündigte – was wiederum nur für denjenigen lustig ist, der weiß, dass Schumann bloß ein Klavierkonzert geschrieben hat. Muss man wissen, wie viele Klavierkonzerte Schumann komponiert hat? Macht es die Welt besser? Es soll ZeitgenossInnen geben, die nicht wissen, wer Xavi ist (= Fußballer vom FC Barcelona, Anm. d. Sportredaktion). Macht es die Welt besser, zu wissen, wer Xavi ist? Vielleicht fühlt man sich nicht mehr so allein, wenn man weiß, wie viele das wissen. Pizzicato übrigens ist, wenn ein Streicher (ein Geiger, Bratscher, Cellist oder Bassist) die Saiten seines Instrumentes nicht mit dem Bogen streicht, sondern mit den Fingern der Bogenhand zupft, also mit der Rechten, möglichst ohne den Bogen dabei fallen zu lassen. Darüber hinaus gibt es den Spezialfall des Linkehand-Pizzicatos, bei dem, wie der Name schon sagt, die Finger der linken Hand obiges tun. Da muss man dann eher aufpassen, dass einem nicht die ganze Stradivari runterfällt. Aber wir wollen uns nicht in virtuose Höhen verlieren. Wir wollen (an) die Basis zurück. Wir wollen, dass die professionelle, zum größten Teil öffentlich finanzierte Kunst- und Musikausübung richtig verstanden wird, als lebendige Mitteilung von Menschen für Menschen. Und dass sie mindestens so aufregend ist und so wichtig wie Philipp Lahms Buch (= Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, Anm. d. Sportredaktion), die Zukunft der OLED-Technik (= organische Leuchtdioden in Energiesparlampen, Anm. d. Wirtschaftsredaktion) oder das politische Schicksal von Christian Ude (= Münchner Noch-OB, SPD, und Herausforderer von Ministerpräsident Horst Seehofer, CSU, Anm. d. Bayernredaktion). Die Sache ist doch die: Einerseits werden wir immer ahnungsloser, was unser kulturelles Bewusstsein angeht, andererseits immer spitzfindiger und elitärer. Ein Konsens über die Mitte existiert kaum noch. Das erschwert die Verständigung ungemein – und das Reden und Schreiben über klassische Musik erst recht. Früher wusste der Mann auf der Straße auch nicht unbedingt, welche Staatsangehörigkeit Frédéric Chopin hatte (die polnische); aber er wusste doch etwas von Klavier und einem bedeutenden Virtuosen. Das gilt heute nicht mehr, und wenn jeder Text über Chopin bei Adam und Eva anfangen muss, dann bleibt notgedrungen wenig Platz für das, was aktuell über ihn zu sagen wäre. Müssen wir über Chopin (oder Mendelssohn oder Schönberg) reden? Nein. Erstens sind diese Herrschaften lange tot, und zweitens verdient man sich damit keine goldene Nase. Musik, sagt Holger Noltze, der in Dortmund den ersten deutschen Studiengang für Musikjournalismus leitet, sollte als „Möglichkeit zur Erhöhung von Komplexitätstoleranz“ begriffen werden. Lieber Herr Professor Noltze, das verstehen wir nicht. Außer dass alles irgendwie ziemlich komplex ist heutzutage. Aber so geht es eben zu in unseren Dramaturgenstuben und Elfenbeintürmen, die Distanz zur Basis beträgt Lichtjahre. Wer kommt etwa auf die Idee, sich mit dem „Buddhismus bei Richard Wagner“ zu befassen (außer ein Buddhist)? Oder „Phänomenen der Skulpturalität im Werk Wolfgang Rihms“ auf den Grund zu gehen (= Komponist, Jahrgang 1952, Anm. d. Musikredaktion)? Schlechter macht das Nachdenken darüber die Welt sicher nicht. Und eine Analyse sämtlicher Spieleröffnungszüge der Dallas Mavericks in der US-amerikanischen NBA strotzt auch nicht gerade vor gesamtgesellschaftlicher Relevanz (die Sportredaktion weigert sich, weiter Auskunft zu geben).

Was bei den Bayreuther Festspielen besonders auffällig war, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Besonders augen- und ohrenfällig ist das Verstummen der Wissenden und der Unwissenden voreinander diesen Sommer bei den Bayreuther Festpielen gewesen. Wagners frühe Oper „Tannhäuser“ stand neu auf dem Programm, und die Aufführung geriet zum Menetekel, äh, Unkenruf unseres berstenden Kulturbegriffs. Die Bühne gestaltete der holländische Künstler Joep van Lieshout, und wahrscheinlich müsste man van Lieshout-Spezialist sein, um halbwegs ermessen zu können, was man da sah. Einen roten Tank namens „Alkoholator“, mehrere grüne Kessel ohne Namen, Schläuche, Trichter, Wannen, das Ganze drei Etagen hoch und von Schriftprojektionen und Videos begleitet. Eine Schrift sagte „Wartburg“, ein Video zeigte Röntgenbilder. Hier braut sich etwas zusammen, buchstäblich. Sehr arriviert und bestimmt superteuer. Um zu erklären, was dieses krude Ambiente nun mit Wagners mythischer Geschichte über den Sängerkrieg auf der Wartburg zu tun hat, braucht es mehrere Einführungsveranstaltungen, ein dickes Programmheft und ein zweitägiges Symposium. Das alles hat auf dem Grünen Hügel stattgefunden, der Vermittlungsbedarf war den Beteiligten also klar. Richtig geholfen hat es trotzdem nicht. So antwortet der „Tannhäuser“-Dramaturg Carl Hegemann dem „Nordbayerischen Kurier“ auf die Frage, was der besagte Alkoholator soll, schlankweg: „Auf der Wartburg wird Alkohol hergestellt (...) Die Bewohner genießen das Rauschmittel in Maßen, beispielsweise an hohen Festtagen wie dem Sängerstreit. Der Venusberg hingegen, die heimliche Lasterhöhle oder Kehrseite der Wartburg, wird mittels eines Schlauchsystems mit Alkohol versorgt. Hier hat man nicht den Nerv, sich mit der Alkoholherstellung zu beschäftigen, stattdessen wird dieser exzessiv genossen.“ Und das Programmheft zitiert Dostojewski: „Menschen können nur beweisen, dass sie keine Drehorgelstifte sind, wenn sie nicht tun, was man von ihnen erwartet, sondern etwas Unsinniges. Darin besteht ihre ganze Kraft.“ Manchmal macht das Bemühen um Rechtfertigung und Erklärung eine nicht so schlimme Sache erst richtig schlimm. Das ist also die eine Seite: Die der Überkandidelten, die seit 1968 und mit der Erfindung des Regietheaters auf immer ferneren Umlaufbahnen kreisen. Ihnen gegenüber, unten im Publikum, sitzen die Ahnungslosen und vermehren sich still. Ihnen müsste erst einmal beigebracht werden, a) wer Richard Wagner ist, b) dass die Bayreuther Festspiele nicht auf der Wartburg stattfinden und c) um was es im „Tannhäuser“ geht. Die Story, die Personen, der Konflikt, ganz pur, Brecht nennt das die „Fabel“. Denn nur wer schon einmal gehört hat, dass der Minnesänger Tannhäuser bei Wagner zwischen zwei Prinzipien steht (oder zwei Frauen), dem des Geistes und dem der Lust, kann vorsichtig ein paar Bezüge zur Aufführung herstellen. Wer davon nichts weiß, tut sich schwer. Wer nichts weiß, tut sich freilich auch mit Peter Steins Salzburger „Macbeth“-Inszenierung schwer: Die sieht zwar aus wie die Doku „Der heilige Krieg“ im ZDF, weniger komplex aber werden Shakespeare und Verdi dadurch nicht. Der Idealfall wäre natürlich, dass die jeweilige Aufführung für sich spricht – und alles Verstehen gleichsam voraussetzungslos über die Begeisterung läuft. Beim „Tannhäuser“ war das nicht der Fall. Da blieb am Ende nur das Drumherum, der Grüne Hügel selbst (= jene bewaldete Erhebung, auf die Wagner 1876 sein Festspielhaus baute, Anm. d. Reiseredaktion), der rote Teppich für Guido Westerwelle und Maria Furtwängler, der Bratwurstduft. Das ist schön, reicht aber auf Dauer nicht. Auch die Werke Richard Wagners werden mit jedem Tag älter und sind auf unsere Hege und Pflege angewiesen. Kurzfristig hilft es nun sicher wenig, den Ahnungslosen zuzurufen, seid doch nicht so ahnungslos!, und den Überkandidelten, seid doch nicht so überkandidelt! Die Schere kann sich nur durch mehr Bildung wieder ein Stück schließen – und durch eine so verständliche wie verständige Vermittlungsarbeit. Denn nur ein mündiges und aufgeklärtes Publikum taugt zum (notwendigen!) Korrektiv für die Kunst. Paradox aber wahr: Auch und gerade der viel geschmähten, gern für mausetot erklärten Kunstkritik kommt somit die Aufgabe zu, den Hochkulturkonsens zu retten. Es muss in Zukunft ein solches Vergnügen sein, Theater- und Musikkritiken zu lesen, es muss so viel Welt und Puls und Leben darin enthalten sein, dass man so manche billiger zu habende Sause dafür einfach sausen lässt. Fassen wir uns beherzt an die eigene Nase!

Ohne staatlich verordnete Bildung aber funktioniert das nicht. Warum, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Ohne staatlich verordnete Bildung aber funktioniert das nicht. Früher, als man sich in Deutschland aufs Dichter- und-Denker-Dasein noch etwas einbildete, wuchs der Mensch mit klassischer Musik auf, ob er wollte oder nicht. Großmütter sangen ihren Enkeln „Guten Abend, gute Nacht“ vor (jenes Brahms- Lied, das Generationen das Fürchten lehrte, weil man die „Näglein“ darin mit Nägeln übersetzte statt mit Nelken), man lernte Blockflöte spielen und klöppelte in der Schule auf dem Orffschen Instrumentarium herum. Weiterführend kamen alle mit mindestens je einem Theater-, Opern- oder Konzertbesuch in Berührung, im Unterricht war die „Moldau“ ebenso Thema wie Beethovens Fünfte, die Grundbegriffe der Notenlehre wurden erörtert und bei der Behandlung des „Freischütz“ fiel schon einmal das Wort von der deutschen romantischen Oper. Tiefschürfend war das alles nicht. Aber ein Angebot: Die Amusischen konnten ihre Köpfe aus der Bildungsbürgerschlinge schadlos wieder herausziehen und behielten, wie die Mehrheit, gleichwohl eine Ahnung von der Bedeutung der Klassiker; und Einzelne, Begabte gingen in Theater- und Musik-AGs, teilten sich Schüler-Abos oder wurden in ihren Fächern echte Cracks. Wir durften mit 13 darüber abstimmen, ob wir uns lieber mit Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ beschäftigen wollten oder mit dem „Flowers“-Album der Rolling Stones. Es lief dann auf die Rolling Stones hinaus, aber das Ergebnis war so eindeutig nicht. Heute ist das anders. An vielen Schulen dräut so etwas wie „ästhetische Bildung“, ein Krüppelfach aus Bildender Kunst, Musik und Theater; oder die sogenannten soft skills fallen ganz flach. Und das, obwohl unzählige Studien belegen, dass Kühe mehr Milch geben, wenn sie Mozart hören, und Kinder, die lernen, Musik zu empfinden, konzentrierter sind, intelligenter und sozial kompetenter. Der Staat hat sich aus seiner musischen Verantwortung gestohlen und das nicht einmal heimlich. Insofern darf man sich nicht groß wundern, wenn die da unten (im Saal) immer weniger verstehen, was die da oben (auf der Bühne) wollen – und umgekehrt. Schlimmer noch: Der Staat hat es sich in seinem Versagen bequem gemacht. Noch nie gab es so viele private Initiativen (von Musikkindergärten über Musiklehrer-Datenbanken bis hin zu Stiftungen wie „Jedem Kind ein Instrument“), die sich aktiv um das musische Heil der nächsten Generationen sorgen. Und natürlich unterhält heute jedes Theater oder Orchester sein eigenes Education- Programm mit Attraktionen schon für die Kleinsten. Allerdings bleibt es ein Privileg, in den Genuss dieser Angebote zu kommen. Und das ist – jenseits der Qualitätsfrage! – die Crux. Der Baggerführer, dessen zehnjähriger Sohn unbedingt zum klassischen Ballett will, das Hartz-IV- Kind mit Migrationshintergrund, das eine Opernkarte geschenkt bekommt und seither von „Aida“ und „Carmen“ nicht mehr lassen will, das sind Ausnahmen. Wir leben in extremistischen Zeiten. „Burnout im Mutterleib – Überfördern wir unsere Kinder?“, so betitelt die Zeitschrift „Musikforum“ ihre aktuelle Ausgabe. Von gymnasialem G8-Stress und elterlicher „Förderwut“ ist da die Rede, von zuschnappenden „Lernfenstern“, von Leistungsdrill und Kuschelpädagogik. Es ist wie später in der Oper: Die Gesellschaft teilt sich in die Elite und in die Masse, in Eingeweihte und Uneingeweihte. Manche Kleinen werden bis zum Umfallen mit Czerny-Etüden traktiert (Carl Czerny = österreichischer Klavierpädagoge, Anm. der leidgeprüften Autorin), andere haben von Tuten und Blasen keine Ahnung. Und werden auch nie eine haben. Das verhält sich im sogenannten richtigen Leben nicht anders. Wissen Sie, was Euro-Bonds sind, oder warum Menschen miteinander reden lassen, im Quassel- TV, statt selbst miteinander zu reden (die Medienredaktion zuckt mit den Achseln)? Es geht ums Geld, immer geht es ums Geld, von Gottschalk bis Xavi. In der Kultur geht es auch ums Geld. Aber nicht so. Das ist der Unterschied. Kunst rentiert nicht, höchstens mal bei den Drei Tenören. Nach der Kunst müsse man japsen „wie ein Köter nach der unerreichbaren Wurst“, sagt der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Klaus Zehelein. Bestimmt japsen nicht alle Köter gleich hoch, und nicht jede Wurst schmeckt gleich gut. Aber oft kommt der Appetit erst beim Fressen. Das muss man wissen, liebe Gesamtredaktion. Alles klar?

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