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Kultur: Opus 2010

Wo bleibt die Solidarität? Der Überlebenskampf der Berliner Symphoniker spiegelt Deutschlands Krise

Kaum steht Weihnachten vor der Tür, wird dem Menschen warm und solidarisch ums Herz. Er spendet für russische Straßenkinder und trägt seufzend seine abgewetzten Winterstiefel in die Kleidersammlung. Im Übrigen freut er sich über sein 13. Monatsgehalt, der solidarische Mensch, und hofft, dass jemand da sein werde, wenn es ihn selbst einmal trifft – ein Helfer, ein Retter in der Not. Die Politik nennt das Solidargemeinschaft, und nichts anderes als diese steht in Deutschland derzeit auf dem Spiel. Bei den Renten. In der Gesundheit. In der Sicherheit. Bei Bildung und Kultur.

Jeder weiß das, viele spüren es längst am eigenen Leib. Und keiner tut was. Man kann getrost erst nach einem halben Jahr mal wieder „Sabine Christiansen“ gucken – und prompt reden da immer noch die immergleichen Nasen von der Reform der Reform der Reform, von Verunsicherung und Chaos und höchster Eisenbahn. Aber nichts rührt sich.

In der bundesdeutschen Orchesterlandschaft freilich hat sich Ende der vergangenen Woche etwas gerührt, und für einen halben Tag wurden die Musiker der drei Berliner Opernorchester sowie des Berliner Sinfonie-Orchesters als die neuen Helden der Nation gefeiert. Zur Rettung der von Subventionsentzug bedrohten Berliner Symphoniker wollen sie künftig auf bis zu 12 Prozent ihres Gehalts verzichten. Ein beispielloser Akt kulturpolitischer Mitmenschlichkeit! Ein Bürgerengagement, das man sich hellsichtiger, ja kühner kaum hätte träumen lassen.

So sah es auf Anhieb aus. Allein das Glück währte nicht lange. Bei genauerer Betrachtung nämlich stellte sich heraus, dass die Musiker ihre Großzügigkeit an Bedingungen geknüpft hatten (Tsp. vom 28.11.). Darunter: die Anwendung des Berliner Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst auf die Orchester. Daraus erwüchse neben einer Verkürzung der Arbeitszeit ganz automatisch ein Kündigungsschutz bis 2009, und zwar nicht etwa nur für die nunmehr geretteten Symphoniker, sondern für alle Berliner Orchester. Die Helfer – deren Zukunft kurzfristig noch etwas rosiger aussieht als die der Symphoniker, aber eben bloß kurzfristig – helfen sich sozusagen selbst.

Dass das Land Berlin diese Arbeitsplatzgarantie niemals wird leisten können, ist klar. Rund sechs Millionen Euro muss Kultursenator Thomas Flierl laut mittelfristiger Finanzplanung des Senats in den nächsten Jahren im Orchesterbereich einsparen. Das Weihnachtsgeschenk für die Symphoniker als Büchse der Pandora?

Hier wirft sich keiner todesmutig vor den anderen, hier gibt niemand sein erstes Hemd, sondern hier werden mit Existenzängsten Geschäfte gemacht. Die Solidargemeinschaft, auf der unser gesellschaftliches Denken bislang gründet, arbeitet – um es laienhaft auszudrücken – mit Verträgen auf Lebenszeit: Solange es mir gut geht, helfe ich dir und zwar bedingungslos. Sobald es mir schlecht geht, hilfst hoffentlich du mir und zwar auch bedingungslos. Zu sagen, ich helfe dir nur, wenn ich sofort, hier und jetzt, folgendes dafür kriege, wäre auch in fetten Jahren unredlich gewesen und absurd. In mageren Jahren mutet es regelrecht zynisch an.

Deutschland zieht sich nicht etwa am eigenen Schopf aus dem Sumpf, sondern stürzt sich kopfüber und mit masochistischer Wolllust in denselben hinein: Jeder klammert sich so lange an die eigenen Steuervorteile, Zulagen oder Subventionen, bis das ganze System an die Wand fährt. Das maßgeblich von der Musikergewerkschaft, der Deutschen Orchestervereinigung (DOV), mitgetragene Angebot zur Rettung der Berliner Symphoniker ist also typisch für unsere Zeit: Musiker – die ohnehin ein Leben lang auf dem schmalen Grat und nicht immer erfolgreich zwischen Künstlertum und Beamtenschaft wandeln – sind auch nur Menschen.

Dies ist aber gar keine Geschichte über Menschen und erst recht keine über Musik. Darin liegt die eigentliche Ernüchterung: Dies ist eine Geschichte über Funktionäre und wie sie sich unverdrossen die Bälle zuschieben.

Der Tarifvertrag für Musiker in Kulturorchestern besteht seit 1971, seine rund 20 Änderungstarifverträge markieren keine großartigen Selbstbeschneidungen. Er stellt, so formuliert es der Geschäftsführer der DOV, Gerald Mertens, nach wie vor „das zeitgemäße Regelungswerk für die Orchesterlandschaft“ dar. Aber ist es zeitgemäß, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit eines Musikers unter 35 Stunden liegt oder dass die tariflich vorgesehenen acht Dienste pro Woche in Berlin längst auf sieben zusammengeschmolzen sind und von Bläsern (die im Repertoire nun einmal weniger oft gebraucht werden als Streicher) nicht selten noch deutlich unterschritten werden? Ein Dienst zählt in der Oper drei, im Konzertbereich zweieinhalb Stunden, die restliche Zeit soll dem Üben vorbehalten sein. Und bislang prüft niemand nach, ob die Musiker in dieser Restarbeitszeit nicht auch gänzlich anderes treiben: Geld verdienen zum Beispiel, als Professoren am Konservatorium, als Aushilfen bei der Konkurrenz. Ist das zeitgemäß? Nein, ist es nicht, sagte jüngst Kulturstaatsministerin Christina Weiss, als sie zum Ersten Deutschen Orchestertag in Berlin das Wort von der „weltfremden Verwöhnlandschaft“ prägte und damit in ein Wespennest stach. Sonderlich diplomatisch war das nicht. Aber wirksam.

Andererseits – und das muss auch gesagt sein – hat sich bei Deutschlands Orchestern seit der Wende durchaus viel verändert. Zählte man 1992 noch 168 Konzert-, Opern-, Kammer- und Rundfunkorchester, so sind es aktuell nur mehr 138, ein Abbau von 15 Prozent, von dem hauptsächlich der Osten betroffen war und ist. Auch in die Rechtsformen kam seit 1990 Bewegung. GmbHs, Stiftungen, eingetragene Vereine und andere Zweckverbände zeigen, dass wenigstens ansatzweise darüber nachgedacht wird, sich organisatorisch zur öffentlichen Hand neu ins Verhältnis zu setzen.

Allein dies alles wird nicht reichen. Es reicht ja noch nicht einmal, dass die Berliner Symphoniker (die bereits zum dritten Mal seit 1993 um ihr Überleben kämpfen) auf eine respektable Auslastung von 80 Prozent verweisen können, dass sie 19 Planstellen gestrichen haben und die Musiker schon lange keinen 13. Monatslohn mehr bekommen. Es reicht nicht, weil solche Maßnahmen zwar Missstände beheben und Privilegien ausmerzen mögen, aber letztlich nur die Oberfläche betreffen. Wir führen Neiddebatten oder betreiben unverständliche Zahlenspiele, aber vor der eigentlichen inhaltlichen Diskussion scheut sich die ganze Nation.

Insofern bedeutet das drohende Aus für die Berliner Symphoniker ausnahmsweise einmal kein typisches Hauptstadt-Problem: Ihre Kollegen aus Mainz (wo das Opernorchester mit dem Sinfonieorchester Ludwigshafen fusioniert werden soll) oder München (wo die örtlichen Symphoniker ebenfalls kurz vor der Abwicklung stehen und die Philharmoniker ihre Kammerkonzerte demnächst ohne Gage spielen wollen) bieten ähnliche Präzedenzfälle.

Wie viel will dieser Gesellschaft ein lebendiges, föderalistisch strukturiertes Musikleben in Zukunft wert sein – das ist die Frage, die es rasch zu stellen und noch rascher zu beantworten gilt. 120000 Euro pro Musiker pro Jahr wie an so mancher Spitzenposition in so manchem Spitzenklangkörper? Grundgehalt, versteht sich, ohne Extras. Ein Musiker sollte von seiner Gage eine Familie ernähren können, sagt Anselm Rose, Intendant der Münchner Symphoniker und Initiator des erwähnten Orchestertages. Darüber ließe sich reden. Weniger reden hingegen lässt sich über Sprüche wie den von Gerald Mertens von der DOV, Orchester und Klöster seien nun einmal die ältesten Einrichtungen unseres Kulturkreises – „und das hat schon seinen Grund“. So viel Selbstgerechtigkeit verdient keine Solidaritätsaktionen. Selbst die sind nämlich nicht ganz neu.

Als es vor ein paar Jahren um die Medienpauschale des Orchesters der Deutschen Oper Berlin ging, sprangen die Kollegen vom Deutschen Symphonie-Orchester beherzt in die Bresche – und stellten ihr „Lichtgeld“ zur Verfügung. „Lichtgeld“, das waren 27 Mark pro Monat pro Nase dafür, dass der Musiker in seiner abendlichen Pflichtausübung verstärkt dem Scheinwerferlicht ausgesetzt ist. Die Medienpauschale wurde trotzdem gestrichen.

Christine Lemke-Matwey

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