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Kultur: Ora et Ira

Porträt einer Verlegerwitwe: Norbert Gstrein stellt im LCB seinen Roman „Die ganze Wahrheit“ vor

Norbert Gstrein will sich an diesem wunderschönen Frühsommerabend im Literarischen Colloquium Berlin gar nicht groß herausreden: „Mein Roman hat einen Ausgangspunkt, und dieser erinnert deutlich an die Konstellation im Suhrkamp Verlag.“ Um genauer zu sein: an die Zeit, als der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld stirbt, seine zweite Ehefrau Ulla Unseld-Berkéwicz die Geschicke des Verlags übernimmt und später ein Buch über sein Sterben und seinen Tod schreibt und veröffentlicht, „Überlebnis“.

Das darf man, wie es Moderator Hubert Winkels in seiner Einleitung macht, „als ganz besondere inhaltliche Dimension dieses Romans“ bezeichnen, der den Titel „Die ganze Wahrheit“ trägt. Das weckt sogleich auch das Interesse von Literaturkritik, Schriftstellern und natürlich der Suhrkamp-Verlegerin und ihrer Belegschaft, die an diesem Abend jedoch bei der Premiere von Christa Wolfs Roman „Stadt der Engel“ in der Akademie der Künste weilt (was sofort Verschwörungstheoretiker auf den Plan ruft: Diese Terminüberschneidung könne doch kein Zufall sein!). Ob diese besondere Dimension aber eine Veranstaltung zwei Monate vor Erscheinen des Buches rechtfertigt, sei nach der Lesung des österreichischen Schriftstellers und der Diskussion mit der Kritikerin Kristina Maidt-Zinke und dem Leiter des Hamburger Literaturhaus, Rainer Moritz, dahin gestellt. „Es hat seine Gründe, dass wir diese Veranstaltung so weit im Voraus machen“, sagt Winkels. Erkennbar werden diese nicht, sieht man von ein paar literaturbetriebsinternen Pikanterien ab, die den Literaturbetrieb interessieren, sonst aber niemand.

Erkennbar wird hingegen bei den Passagen, die Gstrein liest, dass er sich sehr nah an das reale Vorbild gehalten hat. Und dass die Unseld-Berkéwicz nachempfundene Romanfigur Dagmar alle anderen Figuren überragt und diese sehr blass aussehen lässt. Sein Ich-Erzähler ist der Lektor eines kleinen Wiener Verlags, Winfried mit Namen. Winfried bekommt eines Tages das Manuskript seiner Verlegerin über Sterben und Tod ihres Mannes auf den Tisch, des Verlegers Heinrich Glück. Er liest und ekelt sich. Er verweigert das Lektorat und verliert seinen Job; er hört, wie Dagmar sich im Radio über die Anschläge des 11.9. auslässt und darlegt, dass die Amerikaner selbst Schuld seien. Oder er erzählt, wie sie auf einer USA-Reise die jüdische Herkunft von Indianerstämmen entdeckt: „Die wahren Juden Amerikas sind die Indianer.“

Es hat seinen Reiz, wie Gstrein hier ein aus übertriebenem Philosemitismus, Esoterikquark und Psychogebrabbel bestehendes Wahnsystem zusammenschraubt. Oder wenn er dem auf dem Sterbebett liegenden Verleger beschreibt, der immer wieder „I-ra“ haucht, „I-ra“, „I-ra“. Ira ist der Name einer ehemaligen Geliebten, es könnten aber auch nur letzte pulmonologische Körperanstrengungen sein. Die Verlegerwitwe aber versteht immer nur „Ora“, was auf hebräisch Licht heißt. „Ich finde das lustig“, sagt Gstrein, bestätigt aber die Einschätzungen seiner Mitdiskutanten, keine Satire geschrieben zu haben, sondern einen ernsthaften Roman mit satirischen Elementen.

Dessen Problem wird aber schnell deutlich: Es ist beim Zuhören schwer – und es dürfte bei der Lektüre nicht anders sein – sich vom Vorbild zu lösen. Die zumindest öffentliche Figur von Unseld-Berkéwicz und was man von ihr zu wissen glaubt, erscheint unentwegt vor dem geistigen Auge. Und braucht man das wirklich?

Nun ist Gstrein ein äußerst skeptischer Erzähler, der wahren Geschichten nicht über den Weg traut; ein raffinierter Konstrukteur von Geschichten, die auf dem schmalen Grat von Wirklichkeit und Fiktion, von fiktiver Wahrheit und empirischer Wahrscheinlichkeit entlangerzählt sind. Vielleicht besitzt „Die ganze Wahrheit“ tatsächlich literarischen Mehrwert, vielleicht hat es die Gegenüberstellung von einer nicht zustande gekommenen Biografie, die Gstreins Ich-Erzähler über den Verleger schreiben wollte, und dem Totenbuch der Verlegerin wirklich in sich.

Trotzdem erfährt man nicht, warum Gstrein nach zuletzt zwei Romanen über die Jugoslawienkriege („Das Handwerk des Tötens“) und über kroatische Weltkriegs-II–Veteranen („Die Winter im Süden“) sich nun an der Suhrkamp-Verlegerin abarbeitet. Alte Rechnungen? Zuviele Missklänge, nach dem er 2007 von Suhrkamp zum Hanser Verlag gewechselt war? Neue Obsessionen? „Ich dachte, man könnte dem Betrieb entkommen“, sagt Norbert Gstrein zu Beginn, als es noch um seinen Werdegang geht, „aber das gelingt nicht.“ Das ist auch eine Art Scheitern, dem vermutlich ein Roman wie „Die ganze Wahrheit“ entspringt.

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