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Kultur: Oratorium der Beschädigten

Jenseits der medialen Endlosschleife: Thomas Lehrs 9/11-Roman „September. Fata Morgana“

Die Bilder der zwei Flugzeuge, die am 11. September 2001 im Abstand von kaum mehr als einer Viertelstunde vor dem strahlend blauen Himmel New Yorks in die Türme des World-Trade-Center flogen, haben sich ins Gedächtnis jedes Einzelnen eingebrannt. Sie sind zum Emblem einer historischen Zäsur geworden. Die Tatsache, dass die meisten heute noch wissen, wann und wo sie die Nachricht erreichte und wie sie den Rest des Tages verbrachten, ist ein Indiz dafür.

Die Folgen sind bekannt. Das Attentat wurde zum Vorwand für den amerikanischen Einmarsch in Afghanistan und war einer der Gründe für den zweiten Irakkrieg. Was aber ist die Quintessenz dieser Zäsur? Kann man die Emblematik dieser Bilder wieder auflösen? Kann man erzählen, was sie wirklich bedeuten? Thomas Lehr, einer der besten deutschen Schriftsteller, ausgestattet mit enormen sprachlichen Fähigkeiten und den Spannkräften eines flexiblen und scharfen Intellekts, hat sich genau das vorgenommen. „September. Fata Morgana“ taucht ein in das Blau des Septemberhimmels, löst es auf, formt es neu und erzählt vier Lebensgeschichten, jeweils aus der Innenperspektive eines Ich, in einer radikalen und poetischen Sprache ohne Punkt und Komma, die sich biegt und wölbt, so als könne man mit ihr unter die Schädeldecke eines anderen gelangen.

Es sind zwei Vater-Tochter-Paare, deren Stimmen wir vernehmen. Der Roman gleicht einem rhapsodischen Gesang, manchmal auch einem Oratorium, das darum bittet, fleht und betet, es möge nicht eintreten, was doch von Anfang an feststeht: dass Sabrina und Muna, zwei junge Frauen auf dem Sprung ins Erwachsenenleben, zu Tode kommen. Sabrina ist die Tochter von Martin, einem Deutschen, der an der University of Massachusetts Literaturwissenschaften unterrichtet, und der Amerikanerin Amanda, die in zweiter Ehe mit einem Amerikaner verheiratet ist und im World-Trade-Center arbeitet. Am Tag des Attentats will sich Sabrina noch rasch von ihrer Mutter verabschieden und ihr das Einverständnis zu einer Kalifornien-Reise abringen, die sie mit Eric, ihrem neuen Freund, unternehmen möchte. Ihr letztes Lebenszeichen ist der Anruf auf dem Handy einer Freundin, wenige Minuten, bevor das erste Flugzeug in den Nordturm einschlägt.

Muna lebt in Bagdad. Tarik, ihr Vater, ist Arzt. Der Irak unter der langen Herrschaft Saddams bis hin zu den fatalen Auswirkungen des UN-Embargos kommt in seiner Lebensgeschichte in den Blick. Er hat in Paris studiert, lernte dort seine schiitische Frau kennen, gemeinsam gingen sie voller Hoffnung Anfang der 70er Jahre zurück. Sein „poetischer Atheismus“ lässt ihn drei Kriege überstehen. Er praktiziert selbst dann noch, als es keine Medikamente mehr gibt, bis man ihm seine Praxis kurz und klein schlägt.

Es gehört zu den zahlreichen Stärken dieses außerordentlichen Romans, dass er sich nicht auf die westliche Sicht beschränkt. „September“ ist ein Roman über 9/11, aber alles andere als ein Thesenroman oder gar einer, der Verschwörungstheorien nachgeht. Seine politische Haltung zeigt er in der selbstverständlichen Menschlichkeit, mit der er sich dem Einzelschicksal zuwendet. Dazu gehört die Erkundung einer uns fremden Kultur, ohne Ressentiments. Thomas Lehr, der 1957 in Speyer geboren wurde und in Berlin lebt, hat dafür viel recherchiert, er hat sich mit Exil-Irakern unterhalten und die einschlägige Literatur studiert.

Vieles fließt in den Roman ein. Die Erzählungen aus „Tausendundeine Nacht“, die auch eine Art Medium zwischen den beiden jungen Frauen bilden, die sich nicht kennen und doch verbunden sind. Als Kind geschiedener Eltern hat sich Sabrina in einsamen Stunden eine orientalische Prinzessin als Freundin imaginiert. Auch Muna fantasiert sich mit Scheherazade aus bedrängter Lage. Goethe und sein „West-östlicher Divan“ spielen eine Rolle sowie der persische Dichter Hafis, mitsamt seinem Nachdichter Friedrich Rückert und dessen „Kindertotenlieder“. Überhaupt die Lyrik.

Nicht nur die beiden Frauen und Tarik schreiben Gedichte. Thomas Lehr unterlegt dem gesamten Roman einen poetischen Ton. Manchmal bricht er die Zeilen nach dem Rhythmus des Atmens, er zwingt und verführt den Leser zur höchsten Konzentration, indem er ihn jedes Wort, jeden Sinnzusammenhang abtasten lässt. Das führt zu einer eigentümlich mitschwingenden Lektüre. Das Auf und Ab von Hoffnungen und Sehnsüchten, aber auch von Gewalt, Trauer und nackter Angst, überträgt sich körperlich. Dass der Autor die vier Stimmen hart gegeneinander absetzt, ist dabei hilfreich. Denn so eindrucksvoll es ist, ganz in die Innenwelt eines anderen Menschen einzutauchen, so froh ist man doch über die Atempausen, die sich beim Übergang von der einen zur anderen Stimme ergeben.

Durch die Innenperspektive veranschaulicht der Roman eindringlich, was der Tod eines Menschen bedeutet: Es ist ja nicht nur der Körper, der ausgelöscht wird, sondern ein ganzer Weltzugang, alles, was ein Mensch erlebt und sich zurechtgelegt hat, über sich und die Welt und die Zukunft. Dass man Sabrinas Stimme, nachdem sie im World-Trade-Center verschwunden ist, schmerzlich vermisst hat, bemerkt man erst im späteren Verlauf des Romans, wenn Martin die Notizbücher seiner toten Tochter liest: Da ist er wieder, der hoffnungsvolle Ton, nicht aufgedreht, aber offen für all die aufregenden Dinge, die Sabrina zu erleben sich vorstellte. Munas Stimme ist von Anfang an verhaltener. Zwar gibt es die starken Ausbrüche in die Fantasie, das wilde Vermischen von Erlebtem und Erfundenem, aber man merkt, dass sie in einer Umgebung lebt, die sie zu ständiger Vorsicht zwingt. So wechselt die Familie zwischen zwei Wohnorten hin und her, je nachdem, welchen Ort man gerade für sicherer hält.

Mal kann Muna ungehindert auf dem Dach ihres Elternhauses mit dem Nachbarsjungen flirten, mal wird sie im Haus der Großfamilie mit drei Cousinen in Sicherheit gebracht, mal kann sie mit einem von den Eltern für ihre Töchter gemieteten Bus ins College fahren, mal muss sie sich vor dem jüngeren Bruder fürchten, der sich von einem lustigen Spielkameraden in einen religiösen Eiferer verwandelt hat und schließlich ihren Geliebten an den Geheimdienst verrät, der schon Jasmin, ihre stolze große Schwester, gebrochen hat. Der Mythos von Babylon ist in den Roman eingearbeitet und das Motiv des Turms, in seiner biblischen Bedeutung und im übertragenen Sinn: als Spielfigur im Schach und Ort der Einschließung. Am Ende rennt Muna auf der Suche nach ihrem Geliebten einfach ins Freie und kommt bei einem Attentat ums Leben.

Auch wenn alle vier Stimmen annähernd gleichwertig geführt werden, ist Martin am ehesten das Sprachrohr des Autors. Er ist den eigenen Ängsten am nächsten, aber auch dem eigenen Intellekt. In seiner Stimme kommt zu Gehör, was es heißt, ein Kind zu verlieren. Zwei wichtige Nebenfiguren gibt er ihm mit auf den Weg: seine Lebensgefährtin Luisa, die aus Spanien stammt und mit der er in einer der schönsten Szenen des Romans die Alhambra in Granada besucht, und Seymour, den Mann seiner verstorbenen Ex-Frau Amanda. Wie er die beiden Männer trauern lässt, gemeinsam und doch auf ihre je eigene Art, ist das treffliche Porträt einer sich aus Pragmatik nährenden und zu wechselseitigem Respekt führenden Männerfreundschaft.

Es gäbe noch viel zu rühmen an diesem Buch, das zweifellos das Opus Magnum eines Autors ist, der schon seit langem meisterhaft mit der Zeit spielt. So war seine Novelle „Frühling“ der Countdown eines Sterbenden, in seinem letzten Roman, „42“, blieb die Zeit sogar stehen. Dieses Mal hat er sich in jenem Zeitspalt eingenistet, der zwischen einem Ereignis und seiner Übertragung besteht, um ihn so weit wie möglich zu dehnen. Er löst die Bilder von 9/11 heraus aus ihrer Endlosschleife. „September. Fata Morgana“ ist weit mehr als der deutsche Roman dieses Herbstes: ein grandioses poetisches Epos, das vom Beginn des 21. Jahrhunderts erzählt.

Thomas Lehr:

September. Fata

Morgana. Roman. Hanser Verlag,

München 2010.

478 Seiten, 24,90 €.

Meike Feßmann

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