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© Tobias Hirsch

Orhan Pamuk: Das Glück, das die Dinge spenden

Sammler der Leidenschaften: Heute erscheint Orhan Pamuks Liebes- und Istanbul-Roman „Das Museum der Unschuld“. Ein solches Museum will Pamuk bald auch ganz real entstehen lassen.

Man stutzt zunächst und sucht irritiert nach Abbildungen, als in Orhan Pamuks neuem Roman „Das Museum der Unschuld“ das erste Mal davon die Rede ist, dass „hier“ etwas ausgestellt sei. „Um an die zuversichtliche, glückliche Atmospähre jener Tage zu erinnern“, heißt es an dieser Stelle, „sind hier einige Zeitungsreklamen und Werbespots der ersten türkischen Fruchtlimonade Meltem und einige Limonadeflaschen in den Geschmacksrichtungen Erdbeere, Pfirsich, Orange und Kirsche ausgestellt“.

Sind sie natürlich nicht, zumindest sind die Limonade-Zeitungsreklamen nicht zu sehen, man muss sie sich wie üblich bei der Lektüre eines Romans vorstellen. Und sind sie auf ihre Art doch. Denn man kann sich Orhan Pamuks Roman auch als ein Museum vorstellen, durch das man wandert und dessen Exponate die Geschichte von Pamuks Ich-Erzähler Kemal Basmaci ergeben, insbesondere seine im Mai 1975 beginnende Liebesgeschichte, von dem Ohrring, den Kemals Geliebte Füsun beim Liebesspiel zu Beginn des Romans verliert, bis zu dem verrosteten Chevrolet-Wrack, mit dem Kemals und Füsuns Liebe ein unglückliches Ende nimmt. Nach Füsuns Tod kommt Kemal, da er sowieso einen Hang zum Musealen hat und sich die ganze Zeit über mit den Dingen aus Füsuns Alltag auch eine Art Liebesersatz geschaffen hat, auf die Idee, Füsuns Elternhaus zu kaufen und darin ein Museum einzurichten. Und weil so ein Museum „unbedingt einen ausführlichen Katalog brauchte, in dem die Geschichte jedes einzelnen Gegenstands verzeichnet war“, engagiert Kemal einen Autor, der diesen Katalog wie einen Roman niederschreibt: den Schriftsteller Orhan Pamuk.

So weit das hübsch verzwickte poetologische Konzept dieses Buches, dessen „Museum der Unschuld“ in der Realität tatsächlich aber eine Entsprechung bekommen soll. Orhan Pamuk ist dabei, wie er in Interviews gesagt hat, in Istanbul ein Museum einzurichten, mit genau den Dingen, die in seinem Roman erwähnt werden. Und auch genau an dem Ort, den Pamuks Romanheld acht Jahre lang abendlich aufsucht: dem Elternhaus seiner Geliebten im Cukurcuma-Viertel, Cukurcumastraße, Ecke Dalgic-Straße.

Eine „sehr durchmischte“ Gegend, wie es im Roman heißt, in der Hafenarbeiter wohnen, „Ladenbesitzer und Kellner aus Beyoglu, aus Tophane zugezogene Zigeunerfamilien, alevitische Kurdenfamilien aus Tunceli, die verarmten Kinder und Enkel von Italienern und Levantinern, die im Bankenwesen gearbeitet hatten, griechische Familien, die es genau wie letztere noch nicht geschafft hatten, Istanbul zu verlassen, Lagerarbeiter, Bäcker, Taxifahrer, Postboten, Krämer, mittellose Studenten ...“.

Pamuks Roman, das zeigt eine solche Beschreibung, ist zweierlei: eine Liebesgeschichte und ein Istanbul-Roman, der dem Istanbul und seiner großbürgerlichen Gesellschaft der siebziger Jahre ein kleines Denkmal setzt. Er erzählt von der eigentümlichen Liebesbeziehung zwischen dem 30-jährigen Kemal, der in den USA studiert hat und als Geschäftsführer einer Textilexportfirma arbeitet, und der 18-jährigen Verkäuferin Füsun, die gleichzeitig eine entfernte Verwandte von ihm ist. Die Beziehung beginnt vor Kemals Verlobung mit der aus denselben bürgerlichen Kreisen wie er stammenden Sibel und nimmt von Kemals Seite nach der Verlobung kein Ende. Er kommt nicht los von Füsun, die verschwindet, und tröstet sich stattdessen mit den Gegenständen, die ihr gehören oder die sie in ihrem Liebesnest, einem Kemals Familie gehörenden Appartment, berührt hat.

Kemal wird liebeskrank, auch mit körperlichen Symptomen, seine Verlobte verlässt ihn, als er sich unfähig zum Sex mit ihr zeigt, und nachdem er die inzwischen mit einem angehenden Filmemacher und Drehbuchschreiber verheiratete Füsun aufgespürt hat, besucht er sie acht Jahre lang fast täglich abends in ihrem Elternhaus, nicht zuletzt unter dem Vorwand, ihrem Mann finanziell unter die Arme zu greifen und sie selbst zu einem Filmstar zu machen. Schon bevor er aber Füsun aufspürt und zumindest physisch in ihrer Nähe verweilen darf, tröstet sich Kemal - mitunter ganz handfest – mit den Dingen, die ihn an Füsun erinnern, da hilft ihm das „Glück, das die Dinge mir spendeten“ über ihren Verlust hinweg.

Und als er seine Abende bei den Keskins, also Füsun und ihrer Familie verbringt, reicht ihm allein das Betrachten der Gegenstände in der Wohnung, um sie mit Füsun in Verbindung zu bringen und sich der mit ihr verbrachten Zeit zu vergewissern: „Ich verband all die Dinge – den Salzstreuer aus Porzellan, das Maßband in Hundegestalt, den gemeingefährlichen Dosenöffner oder das aus der Küche der Keskins nicht wegzudenkene Sonnenblumenöl der Marke Batany – mit einzelnen Augenblicken, die sich dann im Lauf der Jahre in meinem Gedächtnis zu einem breiten Zeitband verflochten“. Und so dienen die Dinge hier zum einen ganz proustisch der Erinnerung, dem willentlichen Heraufbeschwören von Erinnerungen, und sie erzählen gleichfalls eine Kulturgeschichte des Istanbuler Alltags der mittleren siebziger Jahre.

Dazu liefert Pamuk das Porträt einer Gesellschaftsschicht, die von der sexuellen Befreiung im Westeuropa der sechziger Jahre genauso gehört hat wie sie versucht, sie umzusetzen, und dabei immer wieder mit den traditionellen Werten in Konflikt kommt, vom Verbot des vorehelichen Geschlechtsverkehrs bis zu den zwischen Familien abgesprochenen Heiraten. „In einem Land, in dem Männer und Frauen nie richtig beisammen sein können, gibt es gar keine Liebe“, erklärt Kemals Mutter einmal ihrem Sohn: „Und weißt du auch, warum? Weil die Männer, sobald sich mit irgendeiner Frau was ergibt, sich sofort wie hungrige Wölfe auf sie stürzen, egal ob sie hübsch oder hässlich, nett oder boshaft ist.“ Kemal glaubt trotzdem an die Liebe, an das Glück, dessen man sich immer erst im Nachhinein bewusst wird. Und weil sein Glauben so fest ist, trägt seine besondere, lange Zeit nur platonische Beziehung zu Füsun Züge einer Manie, eines Liebeswahns – Eigenschaften, die natürlich auch jedem Sammler nicht fremd sind.

Folglich hat auch Kemals Geschichte, in der Art, wie sie erzählt wird, was Obsessives, Ausuferndes, mitunter Redundantes. Pamuks Prosa ist manchmal eine Spur zu gemächlich, gar behaglich, auch sehr konventionell, wenngleich ein leicht spöttischer, ironisch distanzierter Unterton immer schön mitschwingt. Doch muss das wohl so sein, denn die Dinge wollen in ihrer Einfachheit, in ihrer Eigenweltlichkeit genauso wie in der Verbindung zu ihrer Umwelt genauestens beschrieben werden und nicht zuletzt auch aufgezählt werden, so wie etwa die Museen, die Kemal nach dem Tod Füsuns in Europa besucht, und ihre besonderen Vorzüge, die sie für ihn haben.

Dass man sich darin nicht ganz verliert oder das Interesse schlichtweg schwindet, liegt daran, dass Orhan Pamuk immer wieder sachte und unprätentiös Reflexionen über die Zeit, das Erinnern und das Vergessen und das Glück in seinen Erzählfluss einbettet, und Kemal unentwegt versucht, seine obsessive Beziehung zu den Dingen zu erklären: „Wie sehr ein Gegenstand uns beeinflussen kann, hängt natürlich nicht nur von den objektiv damit verbundenen Erinnerungen ab, sondern auch von den Launen unserer Phantasie und unseres Erinnerungsvermögens“. Am Ende ist Kemal wider so manchen Anschein davon überzeugt, ein glückliches Leben geführt zu haben. Und am Ende hat es auch Pamuk verstanden, trotz einiger Längen dem Leser so manchen Glücksmoment zu verschaffen.

Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2008. 576 Seiten, 24. 90 €.

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