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Oskar Roehler: Das verratene Kind

Als er vier war, verließ ihn die Mutter. Der Vater wollte auch nichts von ihm wissen. Zu Hause verkam der Sohn, allein. Aus seiner Lebensgeschichte hat Oskar Roehler zuerst einen Roman und jetzt einen Film gemacht: „Quellen des Lebens“.

Warten auf Oskar Roehler. Kempinski, Berlin, Kurfürstendamm. „Diese Frau habe ich besonders geliebt!“, sagt der Mann, dessen Visitenkarte ihn als „Manager Gobelin Hall“ ausweist. Er zeigt auf das Foto von Zarah Leander im Hotelalbum, er kennt sie alle, auch die Toten, gerade die. Da geht ein Ruck durch den Empfangsberechtigten, der ihn binnen Sekunden kerzengerade aufrichtet. Seine Mundwinkel heben sich, bis sie in einem oft erprobten Winkel grenzenloser Verbindlichkeit verharren. „Guten Tag, Herr Hofrat!“, begrüßt Miroslav Harasic den Eintretenden.

Natürlich hat er Roehler zuerst bemerkt. Für einen Hofrat wirkt der Regisseur entschieden zu fragil, ja, erschütternd fragil. Er mag verschiedenste, auch höchst seltene Selbstgewissheiten in sich vereinen, das ahnt man gleich, aber die eines Hofrats ist gewiss nicht darunter. Roehler kommt auf den Manager der Gobelinhalle zu wie auf einen alten Bekannten. „Sie wissen, so habe ich schon Ihren Großvater genannt“, sagt das lebendige Gedächtnis des Kempinski zu Roehler. Sie mögen sich.

Sie halten beide im Zweifelsfall die Vergangenheit für wirklicher als jede Gegenwart. Und genau davon handelt Roehlers neuer Film: von der Unvergänglichkeit der Vergangenheit.

Der Wettbewerb der Berlinale wollte „Quellen des Lebens“ nicht. Dabei schienen Roehlers Filme schon fast ein Berlinale-Abonnement zu besitzen, von „Elementarteilchen“ bis zu „Jud Süß. Film ohne Gewissen“. Und ist Moritz de Hadeln, Dieter Kosslicks Vorgänger als Festivaldirektor, einst nicht auch über Roehlers „Unberührbarbare“ gefallen, die er verschmähte? Seit der „Unberührbaren“ 1999 gilt Oskar Roehler als einer der Großen des deutschen Kinos.

Roehler zieht sich in die linke Ecke eines sehr großen Sofas zurück; es gibt Sofas, in denen man ertrinken kann, dieses gehört dazu.

Roehlers Filme haben etwas Derb-Zartes. Woher die Annahme, der zugehörige Mann müsse viel kompakter sein? Er ist es nicht, er ist groß, aber bis zum Durchscheinen schmal. Man könnte darin einen grundsätzlichen Vorbehalt gegen das Leben vermuten, oder man nennt es Vergeistigung. Neben ihm hängt einer von diesen Gobelins, denen Harasic die besondere Würde seines Titels verdankt und die schon da waren, als Roehler zum ersten Mal herkam.

Nur einer gab ihm Halt: sein Großvater, ein alter Nazi. Er liebte ihn.

Der Fluch. Nun sitzt Oskar Roehler wie seine Eltern gebeugt über eine Tastatur und hackt Gedanken hinein.
Der Fluch. Nun sitzt Oskar Roehler wie seine Eltern gebeugt über eine Tastatur und hackt Gedanken hinein.

© Kai-Uwe Heinrich

Damals war er sieben, das war vor 47 Jahren. Er kam allein, mit eigenem Fahrer, in einem chromglänzenden, großen Mercedes. Roehler beschreibt seine Ankunft im Hotel so: „Kubicek hielt den Wagen vor dem Kempinski, eilte herum und öffnete mir wieder den Schlag. Ein breiter, roter Teppich lag vor dem Eingang, flankiert von zwei Livrierten, die uns sofort mit einer kleinen Verbeugung die Tür aufhielten.“ Harasic könnte das bestätigen.

Kubicek, der Fahrer, und Harasic, der Oberaufsichtsführende der Gobelinhalle, zwei Angestellte der gehobenen Dienstbarkeit, haben viel Ähnlichkeit miteinander, obwohl nur Kubicek im Film vorkommt. Und man vergisst ihn schon deshalb nicht, weil er einer der zwei, drei richtigen Menschen dort ist. Der wunderbarste dieser bedrohten Minderheit ist: ein alter Nazi, Roehlers Großvater. Die anderen sind – ja, was? Karikaturen? Larven? Lauter Schlecht-zur-Welt-Gekommene? Der Regisseur wirkt überrascht, ja erstaunt. Nein, so würde er das nicht sagen!

Oskar Roehler, das verratene Kind, vielleicht das einzige Mitglied des Berliner Subproletariats, das je das Kempinski betreten hat. Damals lag 1968 schon in der Luft. Sein Vater – im Film mit dem offenbar mit jeder Lebenslage kompatiblen Gesicht von Moritz Bleibtreu – debattierte die Erneuerung von Literatur und Gesellschaft, wenn er nicht gerade versuchte, eine Blondine aus dem SDS abzuschleppen. Zu Hause verkam sein Kind, allein. Bis eben Herr Kubicek vor der Tür stand, der Bote seiner Großeltern mütterlicherseits, die sich bei einem Aufenthalt in der Stadt erinnerten, dass sie hier einen Enkel hatten.

Aus all dem hat Roehler einen Film gemacht. Und schon davor einen Roman. Aber in welcher Reihenfolge soll man das erzählen, in welche Grade von Realität soll man es auflösen? Für den Autor-Regisseur ist das ganz einfach: „In Film und Buch sind genau 27,2 Prozent Wirklichkeit, der Rest ist Erfindung; es können aber auch 44,8 Prozent sein.“ Oder 89,4 Prozent? Genauer kann Roehler das nicht angeben. Die Erinnerungskerne sind authentisch. Und seelische Wirklichkeiten sind latent unwandelbar.

Seine Eltern sind Figuren der Zeitgeschichte, die Schriftstellerin Gisela Elsner und Klaus Roehler, zwei Mitglieder der Gruppe 47. Das Drei-Generationen-Porträt in Film und Buch ist zugleich eine Zeitgeschichte der alten Bundesrepublik, aber wie im Zerrspiegel gesehen. Denn dem Aufstieg des Landes, mit dem es immer besser wird, wirtschaftlich und schließlich auch moralisch, schon weil dessen junge Generation die Augen vor der Schuld der Vergangenheit nicht mehr verschließt, diesem Aufwärts entspricht das Elend eines Kindes, und dessen einziger fester Halt in der Welt wird ein alter Nazi, der Vater seines Vaters. „Er hat mir gegeben, was Kinder normalerweise von ihren Eltern bekommen: die Einführung in die Welt.“ Oskar Roehler hat diesen Großvater geliebt. Die Gymnastikübungen, die er noch heute jeden Morgen macht – er hat sie von ihm. Wie Pilze oder Tonarten sich unterscheiden – er weiß es von ihm.

Jürgen Vogel spielt diesen Großvater mit einem umwerfenden, in sich gekehrten Furor. Mit dessen Rückkunft aus russischer Kriegsgefangenschaft beginnen sowohl der Film als auch das Buch. Dieser Mann, dieser Patriarch, so wie er gemacht ist, wird seine Vergangenheit niemals „aufarbeiten“, wie wir gern mit einem unserer etwas naiven Lieblingswörter sagen. Er ist unfähig zu Selbstbegegnungen, sonst hätte er Krieg und Lager nicht überlebt. Und seine Ehe, diese doch so stumme Ehe: War sie nicht um vieles menschlicher als der Zweikampf von Roehlers Eltern, die beide den Traum vom opferlosen Dasein träumten? Der Wahn vom totalen Neubeginn ist auch eine Art von Totalitarismus. „Quellen des Lebens“ unterläuft gewohnte Wahrnehmungen und Übereinkünfte. Ein verqueres Stück Lebens- als Gesellschaftsgeschichte.

Er heißt Oskar, wie Oskar Matzerath, der Junge mit der Blechtrommel.

Im Salon der Löwen. Oskar Roehler im Kempenski-Hotel.
Im Salon der Löwen. Oskar Roehler im Kempenski-Hotel.

© Kai-Uwe Heinrich

Das letzte Bild, das der Sohn von seiner Mutter hat: Sie nimmt ihre Koffer, steigt in einen Fahrstuhl und ist weg. Damals war er vier. „Der Fahrstuhl war wie ein Klumpen in die Tiefe des Universums gefallen, tief ins Unterbewusstsein, ohne je aufzuschlagen. Vielleicht stand ich deshalb manchmal als Vierjähriger nachts am Fenster und blickte hinaus wie ein einsamer Matrose, um auszuloten, an welchen Gestaden der Fahrstuhl meiner Mutter wohl ankam, und weil ich den Ton zu dem stummen Bild ihres Verschwindens suchte, durch den sich das in der Schwebe gehaltene Rätsel jener Nacht endlich lösen würde.“

Dass Roehler Filme machen kann, weiß jeder, aber schon auf den ersten Seiten von „Herkunft“ – so heißt das Buch – ist man sicher, dass er auch schreiben kann. Wie er die Welt einlässt in seine Sätze, die innere mit der äußeren verwebt! „Herkunft“ hat fast 700 Seiten. Dieser Autor ist groß in seinem Eigensinn. Seine Gerechtigkeit ist die Genauigkeit. Und es ist die Mehrschichtigkeit seiner Charaktere, die dem Film oft fehlt, Jürgen Vogels Altnazi ausgenommen. Der einzige mit einer wirklichen Entwicklung!

Er heißt Oskar, wie Oskar Matzerath. Die Eltern haben ihn wie den kleinen Jungen in Grass’ „Blechtrommel“ genannt, der Glas zersingen konnte und sich aus Widerstand gegen die Weltordnung irgendwann weigerte zu wachsen. Wahrscheinlich hätte Roehler schon aus Protest gegen seine Eltern das Gleiche getan. Aber Film und Buch sind auch zwei Weisen, Glas zu zersingen. Die Ästhetik von „Quellen des Lebens“ ist nur erklärbar aus dem Versuch, die Welt mit dem fremden Blick des Kindes zu sehen. Auf die Frage: Bin ich das Gespenst oder ist es die Welt?, antwortet jedes gesunde Kind: die Welt. So ist das gedacht.

Im Kempinski lernt der Siebenjährige seine Großmutter mütterlicherseits kennen. Es ist eine der Schlüsselszenen des Films. Vielleicht kann man die Erscheinung dieser Frau nicht dezenter umschreiben als mit den Roman-Gedanken ihrer Tochter: „Ein gut genährter Hamster, dachte sie. Ein Hamster, der nicht mehr gefickt wurde.“ Oder: „Madame Pompadour aus Schweinfurt“. Mit nach außen ondulierter Perücke, die „wie eine Haubitze“ über ihrer niedrigen Stirn saß. Die Kupplerin ihrer Töchter. Genau das spielt Margarita Broich. Was sie nicht spielt, ist die Tragik selbst dieser in jeder Lebensäußerung unerträglichen Frau. Roehler selbst kann sie auf immer neue Weise beschreiben: „Sie war eigentlich ein wildes Bauernmädchen, dem man die Lebensfreude genommen hat.“ Es braucht nicht viel, um zu verstehen, dass ihr Kind – Roehlers Mutter Gisela Elsner – nur Hohn hatte für diese Frau. Hohn für alle irgendwie beschränkten und beschränkenden Existenzformen, also für die allermeisten. Selbst für ein Kind. Zu viel Reflexmaschine, zu wenig Hirn.

Gisela Elsner hatte alles unternommen, diesen Sohn nicht bekommen zu müssen. Der Ungewollte beginnt in seinem ozeanischen Sofa nun eine detaillierte Aufzählung, sein Gesicht wird zur Maske dabei. Als er „Die Unberührbare“ drehte, diese Nachwende-Geschichte seiner Mutter, die sich in einer Entzugsklinik das Leben nahm, habe er das so noch nicht gewusst.

Oskar Roehler ist ein Gezeichneter, Gezeichnete müssen vorsichtig sein.

Wenn Eltern und Großeltern zu den Kindern werden, die man nicht wieder los wird. Oskar Roehler arbeitet sich an seiner Familie ab.
Wenn Eltern und Großeltern zu den Kindern werden, die man nicht wieder los wird. Oskar Roehler arbeitet sich an seiner Familie ab.

© Kai-Uwe Heinrich

Das Duell begann also bereits im Mutterleib. Wie es weiterging, ist im Film mindestens so brutal wie im Buch. Die Mutter: Das war das Hämmern der Schreibmaschine hinter der verschlossenen Tür. Das Kind wirft sich dagegen: „Vielleicht war es auch der Lärm, der mich so hungrig machte. Lärm macht wütend. Hunger macht wütend. Lärm und Hunger haben mich geprägt. Ich wurde sehr, sehr wütend.“

Roehler wusste wohl, dass er diese Dinge nicht in der Wucht des Zum-ersten-Mal seinem Film anvertrauen durfte. Ein Film hat es ungleich schwerer, Balancen herzustellen, als ein Roman. Hat Roehler sich gar mit „Quellen des Lebens“ von „Herkunft“ erholt?

„Ich wollte Anekdoten erzählen“, sagt er. Ein beinahe tödlicher Satz. Anekdoten rechtfertigen einen Kneipenabend, keinen Film, und doch sollte man ihn nicht missverstehen: Keine Abrechnung, kein Mitleid heischendes Stück Kino sollte es werden. Im Gegenteil, ein lustiger Film. Und manchmal ist er es auch, doch die Bedrückung ist stärker, an dieser verratenen Kindheit erstickt jedes Lachen. Zum Lustspielregisseur fehlt Roehler wohl die Leichtigkeit, die Beiläufigkeit auch.

Der Film zum Buch. Das Meisterwerk ist der Roman, sein erster. Er ist also doch das Kind seiner Eltern. Er nimmt immer öfter ihre Lebenshaltung ein, die hämmernde: über eine Tastatur gebeugt, nur dass der Computer leiser ist als die Schreibmaschine seiner Mutter.

Oskar Roehler hat keine Kinder. Er versucht, Herr über sein Lächeln zu bleiben. Es soll ihn tarnen und schafft es doch nicht. Er kann einer vollkommen Fremden jetzt unmöglich die näheren Umstände seiner Kinderlosigkeit erklären. Er ist ein Gezeichneter. Gezeichnete müssen vorsichtig sein.

Zuletzt ist sein Vater gestorben. Die Familie, von der er erzählt, gibt es nicht mehr. Natürlich hat er Kinder. Es sind seine Toten, die da in ihm längst ihr Eigenleben begonnen haben, die ihn zum Schauplatz ihrer Familientreffen machen, fast täglich. Niemand verliert das Kind, das er einmal war. Jeder ist väterlich und mütterlich zugleich, so wie er die ewige Spannung von Mann und Frau in sich austrägt.

Dieser Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.

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