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Otto Sander freundet sich in „In weiter Ferne, so nah!“ mit der Goldelse an.

© IMAGO

Otto Sander ist tot: Im Himmel über Berlin

Otto Sander schien über Abgründen zu schweben - und machte daraus große Kunst. Jetzt ist der Schauspieler, der in Kinoerfolgen wie „Die Blechtrommel“ und „Das Boot“ mitspielte, mit 72 Jahren in Berlin gestorben.

Er war anwesend. Wirklich da. Nicht nur für seine vielen Freunde und die Kollegen im Theater, Film, Fernsehen. Selbst wer ihn nicht sofort vor Augen hatte, im Ohr hatten ihn alle. Fast alle. Denn Otto Sanders Bariton, der in seinen jüngeren Zeiten noch etwas gießkannenhaft schepperte, schönes Blech, wurde immer sonorer, männlicher, ein rauer und zugleich Sehnsüchte besänftigender Klang nach Whisky, Weite, Tiefe. Nach Welterfahrung. Otto, The Voice. Dustin Hoffman auf Deutsch war Otto Sander, für Lesungen rissen sich die Verlage um ihn, unzählige Fernsehdokus und Hörbücher schmückte seine Erzählstimme, und in Berliner Museen hatte man ihn im Kopfhörer. Und genau das war’s auch: eine Kopf-Stimme. Otto Sander hatte Texte, bevor er sie sprach, erst einmal gedacht, wie nur wenige Schauspieler oder professionelle Vielredner es vermögen.

Otto Sander trank weiter, rauchte seine Gauloises

Als wir uns vor zwei Jahren, kurz vor seinem 70. Geburtstag, bei ihm zu Hause in der Jenaer Straße trafen, im Bayerischen Viertel, auf der Grenze zwischen Berlin-Wilmersdorf und Schöneberg, da war er schon gezeichnet von seinem Krebsleiden. Aber er schien es im Griff zu haben, jedenfalls, wie er sagte, „soweit du so etwas Fatales in dir selber überhaupt greifen und begreifen kannst“.

Otto Sander trank weiter seinen Rotwein, rauchte seine Gauloises Blondes, also Filter, aber immer weiter, und er bereitete sich gerade auf seine neuen Filmrollen vor. So spielte er einen rebellischen Rentner, der noch ein Flugzeug entführt, wobei der Filmtitel „Bis zum Horizont, dann links!“ auch eine Art Lebensmotto bedeuten konnte. Und er freute sich besonders, demnächst ein neues Hörbuch „einzulesen“, wie das leicht absurderweise heißt. Es ging um Jonas Jonassons „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Ein schwedischer Roman über einen ausbüchsenden, sich die Welt ein neues, letztes Mal erobernden Altersheimbewohner. Das Buch war in den großen Feuilletons meist übersehen worden, doch Otto Sander wusste bereits: „Das wird ein großer Spaß.“

Es wurde ein Sensationserfolg, hunderttausendfach verkauft.

Er ist nun nicht selber mehr 100 geworden. Otto Sander ist gestern mit 72 Jahren in Berlin gestorben, wo er, gebürtig aus Peine bei Hannover, seit 45 Jahren gelebt hat. Bekannt wurde er natürlich als Mitglied des Schaubühnenensembles von Peter Stein, das ab 1970 von Berlin-Kreuzberg mit Bruno Ganz, Edith Clever, Jutta Lampe und eben Otto Sander fast aus dem Off und in Windeseile das Welttheater erobert hat.

Was er liebte? Ritte über dünnes Eis. Und die See

Sein Debüt gab er, nach einem Abgang von der Schauspielschule in München, 1965 in den Düsseldorfer Kammerspielen in einem Stück von Václav Havel, dem tschechischen Dissidenten und späteren Präsidenten. Vier Jahre darauf arbeitete er schon mit dem jungen Claus Peymann in Berlin an der damaligen Freien Volksbühne, und Peymann empfahl ihn wohl auch Stein für die Schaubühnenneugründung.

Stein besetzte Sander sofort in seiner Auftaktinszenierung, Brecht/Gorkis „Die Mutter“ in einer Nebenrolle an der Seite der großen, alten Therese Giehse. Und gleich darauf spielte er, noch einmal unter Peymanns Regie, den real-fiktiven Großschauspieler Emil Jannings in Peter Handkes „Ritt über den Bodensee“.

Ritte über den Bodensee, über dünnes Eis, und ursprünglich noch mehr die Seefahrt hat Otto Sander geliebt. Er war, als er Ende der sechziger Jahre nach West-Berlin kam, anders als viele in seinem künstlerischen Milieu, keiner der Wehrdienstvermeider, nicht einmal ein Verweigerer. Der Sohn eines norddeutschen Marineoffiziers, in dessen Familie alle männlichen Stammhalter Otto hießen, hatte da bereits bei der Bundesmarine „gedient“, er war in dem in Marxismus-Leninismus geschulten Stein-Ensemble an der Schaubühne der gewiss einzige Reserveleutnant zur See – und zeitlebens stolz auf sein Patent als Hochseekapitän.

Bekannt durch die Schaubühne, zumal viele der großen frühen Inszenierungen, wie „Peer Gynt“ oder der „Prinz von Homburg“, auch im Fernsehen liefen oder wie die „Sommergäste“ sogar verfilmt wurden. Berühmter als alles tolle Theater aber machte ihn naturgemäß das Kino.

Ein spröder, bisschen knarziger Junge

Sander spielte schon in der Oscar-gekrönten „Blechtrommel“-Verfilmung von Volker Schlöndorff und in Werner Schroeters „Palermo oder Wolfsburg“. Doch ein Hammer war 1981 Wolfgang Petersens „Das Boot“. Sander hatte lieber Oberwasser. Sein gegen das Kriegsgrauen antrinkender, gleichwohl hochdekorierter U-Bootskapitän Thomsen, wurde indes zum Durchbruch. Der rothaarige sommersprossige Offizierssohn mit den wasserblauen Augen und dem unverkennbar norddeutschen Organ hatte bis dahin viel zu kämpfen mit der Einschätzung ein eher spröder, bisschen knarziger Junge zu sein. Jetzt, mit immerhin 40, war er ein Mann. Ein Schauspieler in seinem Element.

Das Element meint hier nichts Äußerliches, nicht Militär und Waterkant. Es war vielmehr die Mischung aus Härte und Schmerz, der Krieger und Träumer, Trinker, der selbst in der Enge des stählernen Unterseesargs noch eine Spur – Schwebende. Kein Wunder, das ihn Wim Wenders ein paar Jahre später in den „Himmel über Berlin" holte, wo er ein Engel war und zusammen mit seinem Kollegen und Freund Bruno Ganz durch Geschichte und Gegenwart flog und beide bereits 1987 die Mauer zu überwinden schienen.

Den Engel Cassiel hat er in Wenders’ Nachmauerfall-Film „In weiter Ferne so nah!“ dann 1993 noch einmal sich aufschwingen lassen. Ungeheuer (ja: ungeheuer!) menschlich, wie nur Engel und ein Sander sein können. Da traf er mit Bruno Ganz im neuen alten Berlin wieder auf Peter Falk, auf Willem Dafoe aus New York und Hollywood und er legte leibhaftig den Arm um Michail Gorbatschow aus Moskau...

Der legendärste Auftritt geschah in den 70er Jahren

Das Schwebende. Eben dies gilt auch für den großen Komiker, der Otto Sander auch – für manche: vor allem – war. In seiner Wohnung in der Jenaer Straße, wo nun seine Frau, die Schauspielerin Monika Hansen, mit ihren großen Kindern um ihn trauert, mit Ben und Meret Becker, die von früh an auch die Kinder des geliebten Stiefvaters Otto wurden, in dieser luftig großen Berliner Altbauwohnung stehen in einem Bücherregal oder mitunter „zum Auslüften“ auf dem Balkon auch zwei bronzene Knautschschuhe. Es sind die Latschen des berühmtesten Tramps der Filmgeschichte. Er hat sie als Preise gekriegt und gleich zu Beginn unseres letzten, langen Gesprächs gesagt: „Ich bin der einzige Schauspieler, der beide Chaplin-Stiefel besitzt, den linken und den rechten!“ Dazu sein nasenspitzes, schnauzbartbreites Otto- Sander-Lachen.

Ach.

Bei Kleist ist das berühmte „ach“, anders als im klassischen französischen Drama das „élas!“, nicht nur ein Ausruf der Trauer oder kommt gleich vor dem Ohnmachtsanfall. Im Kleistschen „ach“ schwingt auch ein melancholisches Staunen mit. So, als schwermütig Entrückten und zugleich in eine verzweiflungskomische Persönlichkeitsspaltung Getriebenen, hat Otto Sander vor gut zwanzig Jahren in Berlin die Titelrolle in Kleists „Amphitryon“ verkörpert: dabei schier zerrisssen als mal göttlicher, mal menschlicher Liebhaber derselben Frau, die Jutta Lampe war. In Klaus Michael Grübers Regie war das vielleicht Otto Sanders schönste Rolle. Unter so vielen, im Theater und in etwa 150 (TV-)Filmen. Der legendärste Auftritt aber geschah schon Ende der siebziger Jahre.

Das amerikanische Theatergenie Robert Wilson inszenierte erstmals in Deutschland, in Berlin mit den Schaubühnenspielern sein fünfeinhalbstündiges Rätselwerk „Death, Destruction & Detroit“. Einer der Höhepunkte der mit sonderbar grauen Menschen, Maschinen und riesigen Zahnrädern zu minimalistischer Musik sich vollziehenden Aufführung war gegen Ende hin ein minutenlanger Stepptanz, den Sander als Mann in einem Knickerbocker-Tweedanzug unter einer monumentalen Glühbirne hinlegte. Mit dem Bild davon kam er selbst in die „New York Times“ und wurde als Erfinder des hier erstmals vorgeführten „slow motion tap-dance“ gerühmt.

Tatsächlich balancierte Sander auf seinen Fußspitzen wie eine Mischung aus somnambuler Ballerina und einem Mann, der hanebüchen komisch, bei jedem Stepp-Tritt zu fürchten schien, in einen unsichtbaren Abgrund zu fallen. Darum wirkte der an sich schnelle Tanz so schier unglaublich verzögert.

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Sander sagte: Timing ist fast alles

Otto Sander hatte das, wie er uns erzählte, mit einem „inneren Metronom“ gespielt, hatte die Schritte und Takte einzeln mitgezählt. So wird ein schauspielerisches Wunder zum Mix aus Physik und Metaphysik. „Timing ist fast alles“, war Otto Sanders Devise, gleich ob er den „Hauptmann von Köpenick“ spielte oder den alten Einsiedlerkrebs namens Krapp Becketts „Letztes Band“. Der große Bob Wilson, der die Rolle zuletzt selbst spielte, hat Otto in einem Faxbrief gedankt, dass er von ihm gelernt habe, dass die Schwierigkeit, diesen traurigen Clown zu erfassen, sei: „das Schweigen zu spielen und es leicht zu machen“.

Brecht sagte einmal, das Leichte sei das Schwerste in der wirklichen Kunst. Otto Sander, den fast alle nur Otto nannten, er war kein typischer Berliner Boulevardier. Er schwebte, leicht auch mit schwerem Kopf, immer über dem Bierernst, auch dem der seichteren Szene. Aber dass sie ihn seit langem in Berlin auf der Straße gegrüßt haben und er am Tresen der Charlottenburger „Paris Bar“ als einziger ein Messingschild hatte mit seinem Namen, das war ihm schon eine stille Freude.

In Gold gerahmt hängt in seinem Arbeitszimmer eine Strophe des italienischen Dichters Salvatore Quasimodo: „Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde / getroffen von einem Sonnenstrahl, / und schon ist es Abend.“ Ja, schade, schon jetzt.

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