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Universalgelehrter. Adrien Proust, 1834 - 1903

© Nadar/Wikipedia

Pandemie-Experte Adrien Proust, Vater von Marcel: Auf der Suche nach der Cholera im 19. Jahrhundert

Marcel Prousts Vater Adrien war Arzt und ein führender Pandemie-Experte in Europa. Auch in der "Recherche" spielt die Medizin eine wichtige Rolle.

Die Szene ist eine zentrale in „Guermantes“, dem dritten Band von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wenn nicht gar eine zentrale der gesamten „Recherche“, wie Prousts Großwerk griffiger genannt wird.

Die Großmutter des Erzählers erleidet in den Champs-Élysées einen Schlaganfall, und weil ihr Enkel gerade zufällig den „berühmten Professor E.“ getroffen hat, „der mit meinem Vater und meinem Großvater befreundet oder zumindest gut bekannt war“, fragt er diesen kurzerhand, ob er seine Großmutter nicht sofort untersuchen könne. Nur widerwillig kommt Professor E. dieser Bitte nach. Er hat eine Abendeinladung, muss sich umziehen, einer seiner Fräcke hat einen Riss.

E. erklärt sich zu einer fünfzehnminütigen Untersuchung bereit und diagnostiziert dann knapp und wenig einfühlend, dass die Großmutter verloren, ihr Fall ein hoffnungsloser sei: „Im übrigen sind Sie ja bei Cottard in besten Händen.“

Doch auch Dr. Cottard, der in der „Recherche“ durchgängig vorkommt, macht oft genug den Eindruck einer sinistren, lächerlichen Figur. Obwohl ein sehr guter Arzt, gehören Eitelkeit und Karrierestreben zu seinen auffallendsten Charaktereigenschaften. Es muss schon ein bedeutender Notfall sein, der ihn einen Mittwochssalon bei den Verdurins ausfallen lassen könnte, „wobei die Wichtigkeit mehr von der sozialen Stellung des Kranken als von der Schwere seines Falls abhing“.

Als die Großmutter dann auf dem Sterbebett liegt, ist es der – tatsächlich nicht fiktive – Professor Dieulafoy, der nach ihr schaut und beim Abschied mit „taschenspielerhafter Geschicklichkeit“ das Kuvert mit der Gage für seinen Krankenbesuch einstreicht. Auch wenn Prousts Erzähler Dieulafoy schließlich als „der Takt, die Güte und die Einsicht selbst“ bezeichnet, kommen die Ärzte in der „Recherche“ häufig nicht gut weg, nicht die Genannten, nicht Dr. X, Dr. Percepied, Dr. du Boulbon, um weitere zu nennen.

Adrien Proust wird 1874 Leiter des französischen Gesundheitswesen

Sie sind hybride, vielfältig zusammengesetzte Persönlichkeiten, mitunter wenig schmeichelhafte Figuren und sorgen sich wie Cottard mehr um ihren gesellschaftlichen Rang als um ihre Patienten.

Dass es ihrer so viele in der „Recherche“ gibt, liegt daran, dass Marcel Proust aus einer Ärztefamilie stammte. Sein Vater Adrien und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Robert waren erfolgreiche Ärzte.

Die Medizin spielt in den Tiefenschichten der „Recherche“ eine tragende Rolle. Mit Vergleichen und Metaphern spart der Erzähler nicht, wenn es um die Liebe von Swann zu Odette oder die von ihm zu Albertine geht. Die Übergänge ins Pathologische sind fließend, die mit einer Liebe einhergehende Eifersucht stellt sich als kaum zu therapierende Krankheit mit einer vielgestaltigen Symptomatik dar.

Nun ist der Vater des Erzählers kein Arzt, sondern Ministerialrat im Außenministerium – autobiografische Spuren versuchte Proust so viele es ging in der „Recherche“ zu verwischen; auch Geschwister hat der kleine Marcel nicht. So viel medizinisches Wissen in die „Recherche“ eingegangen ist, insbesondere auch auf dem Gebiet der nervösen Leiden, der „Neurasthenie“, so viele Ärzte darin auftauchen, so wenig bis gar nicht kommt das Fachgebiet vor, auf das sich der Vater im Verlauf seiner Karriere konzentriert hat: die Hygiene.

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1834 in Illiers als Sohn kleiner Kaufleute geboren, wird Adrien Proust mit nicht einmal dreißig Jahren 1863 zum Leiter der Pariser Charité berufen.

Auf einer Reise nach Sizilien 1867 erlebt er, was für Maßnahmen dort gegen die Cholera ergriffen werden. Zwei Jahre später ist er im Auftrag der französischen Regierung in Russland und Persien unterwegs, um die Verbreitungswege der Cholera zu erforschen; ihren Ursprung verortet er in Indien. 1874 wird er Leiter des französischen Gesundheitswesen, und mehrmals nimmt Adrien Proust an internationalen Gesundheitskonferenzen teil, auf denen es um Seuchenprophylaxe und die Eindämmung von Seuchen geht.

Tod auf der Straße: Der Beginn der Pariser Cholera-Epidemie von 1832 in einer Illustrierten der "Histoire Populaire de la France"
Tod auf der Straße: Der Beginn der Pariser Cholera-Epidemie von 1832 in einer Illustrierten der "Histoire Populaire de la France"

© Corbis via Getty Images

Adrien Proust war gleichermaßen Feldforscher wie Kliniker, der zahlreiche Schriften über seine Fachgebiete publizierte, Essays wie „La défense de L’ Europe contre le choléra“ oder den „Essai sur l’hygiène internationale, ses applications contre la peste, la fièvre jaune et le choléra asiatique“, beide 1873 erschienen. Aus gegebenem Anlass hat gerade die in Essen erscheinende Literaturzeitschrift „Schreibheft“ zwei Texte von ihm übersetzen lassen, dazu gibt es ein Nachwort des Arztes, Proust-Experten und Vorsitzenden der deutschen Proust-Gesellschaft Reiner Speck. 

Zum einen das Vorwort zu einer Hygiene-Schrift von 1877 („Traité d’hygiène publique et privée“), zum anderen ebenfalls ein Vorwort zu einem 1883 veröffentlichten Cholera-Buch. Wie umfassend Adrien Proust sein Fachgebiet betrachtet, wird hier deutlich.

Hygiene ist für ihn nicht allein eine Vorsichtsmaßnahme, Gesundheitsprophylaxe, sondern das Mittel, um den Menschen in seiner Gesamtheit zu fassen, körperlich, psychisch, geistig: „Derart betrachtet überschreitet sie die engen Grenzen der Medizin; und die Biologie, die Anthropologie, die Gesetzgebung, die gesamte Menschheitsgeschichte vereinigen sich, um die Grundlage und gleichsam das eigene Gebiet dieser Wissenschaft zu bilden. Alles, was den Menschen betrifft, gehört zur Hygiene; er muss sich einfach für alles interessieren und kann sich den Gedanken des Dichters zueignen: Nil humane a me alienum puto.“

Adrien Prousts Vorwort zu seiner Hygiene-Abhandlung ist philosophisch und literarisch durchdrungen, so wie er hier einen Parforceritt durch die Wissenschafts- und Geistesgeschichte unternimmt, um die Entwicklung der Hygiene über die Jahrhunderte nachzuzeichnen.

Im Vorwort zu der Cholera-Studie demonstriert er dagegen ganz praktisch, wie man mit der Sperrung globaler Hauptverkehrsstraßen, ob auf dem Land oder in diesem Fall besonders auf dem Wasser, der Cholera Einhalt gebieten kann. Der Suezkanal war Ende des 19. Jahrhunderts das entscheidende Nadelöhr.

Das Essener "Schreibheft" hat in seiner jüngsten Ausgabe zwei Texte von Adrien Proust übersetzt

Hier waren es die Engländer, die als Kolonialmacht über Ägypten wirtschaftliche Interessen über medizinische Vorsichtsmaßnahmen stellten, nachdem sie Ägypten 1882 besetzt hatten. Adrien Proust verweist auf den von ihm weiterentwickelten „Cordon sanitaire“, auf die Überwachung der Seewege und die von den Franzosen errichtete Sperre im Roten Meer, sodass „jede direkte Verbindung zwischen den verdächtigen oder verseuchten Waren aus Indien und Ägypten unterbrochen wurde“. Viermal sei man damit, so Dr. Proust, erfolgreich gewesen – bis eben 1882 die Briten kamen.

Mögen die Hygiene und die Epidemiologe damals junge Wissenschaften gewesen sein, so unterscheiden sich die gegenwärtigen Erkenntnisse über die Verbreitungswege und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung nicht so sehr von der Zeit eines Adrien Proust. Dieser schrieb auch in der Kultur- und Literaturzeitschrift „Revue des Deux Mondes“ zwei längere medizinische Aufsätze. Von denen setzt sich der eine, „Le pèlerinage de la Meque“ mit den Gefahren der Massenpilgerei auseinander: Umso günstiger und deshalb zahlreicher die Pilger nach Mekka kommen können, desto mehr gehen diese billigen Reisen auf Kosten der Hygiene, desto gefährlicher ist es für die Gesundheit der Pilger. Und desto leichter können sich Epidemien entwickeln und zu Pandemien werden. Diese Schrift wirkt, als habe Adrien Proust damit schon das Zeitalter des Massentourismus vorhergesehen.

In der Dreyfuß-Affäre hatten Vater und Sohn Differenzen

In der „Recherche“ spielt die Cholera überhaupt keine Rolle, einmal wird sie kurz erwähnt. Marcel Proust hat den Werdegang seines Vaters, seine Eigenschaften auf verschiedene Figuren verteilt, auf einen Arzt wie Cottard (der wie der Vater aus der Provinz stammt und am Ende an „Überarbeitung“ stirbt) oder auf den Diplomaten Norpois.

Dieser ist ein ungleich berühmterer Kollege des Erzähler-Vaters; beide reisen beispielsweise einmal zusammen nach Spanien. Norpois hat Verbindungen zur „Académie des sciences morales et politiques“, in welcher der Erzähler-Vater unbedingt Mitglied sein möchte. 

Und er ist auch „sehr befreundet“ mit dem Herausgeber der „Revue des Deux Mondes“. „Er kann dich dort hineinbringen“, sagt der Vater zum kleinen Marcel zu Beginn des zweiten Bandes „Im Schatten junger Mädchenblüte“, auf Norpois verweisend.

Und später, in „Guermantes“: „Er selbst hat sich sehr lobend über dich geäußert (…), und er könnte dir manchen guten Rat sagen, selbst wenn du Schriftsteller werden willst. Denn ich sehe schon, dass es darauf hinauslaufen wird. Man mag ja auch das als eine schöne Laufbahn ansehen, es ist freilich nicht das, was ich mir für dich gewünscht habe.“

Adrien Proust dürfte die beruflichen Ambitionen seines Sohnes recht skeptisch betrachtet haben; die Beziehung beider verlief nicht ohne Komplikationen; auch in der Dreyfuss-Affäre waren sie nicht einer Meinung. Adrien Proust stirbt 1903 nach einem Schlaganfall, während einer Gesundheitskonferenz in Paris (den Schlaganfall erleidet er übrigens wie die Großmutter im Roman auf einer Toilette). Der trauernde Marcel Proust bezeichnet ihn kurz darauf in einem Brief als „liebenswürdig und einfach“, als jemanden mit „viel edlerer Natur als ich“ – und widmet dem Vater 1904 seine Ruskin-Übersetzung „Bibel von Amiens“.

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