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Kultur: Panorama: Blinde sehen besser

Ist es eine Heiligengeschichte? Auf jeden Fall.

Ist es eine Heiligengeschichte? Auf jeden Fall. Eine Heiligengeschichte? Niemals. Nicht in diesem Fischerdorf am Ende der Welt oder am Ende Japans. Außerdem hat schon jeder hier erkannt, wer Rai, der Junge, wirklich ist. Ein Idiot. Sogar sein Vater sagt das. Einer, der nie Schmerz zeigt, wenn man ihn schlägt. Der sich nie wehrt. Einer, der lächelt unter den Demütigungen. - Nein, so geht das nicht. Das klingt ja wie eine Heiligengeschichte. "Hotoke", sagen wir es besser gleich, heißt übrigens Buddha. Aber warum sollte nicht auch eine Filmkritik das schaffen, was dem japanischen Autor, Komponisten und Musiker Jinsei Tsuji in seinem zweiten Film so spielend gelingt: auf einer symbolischen Ebene gratzuwandern, ohne dass man die Absicht spürt.

Dieses Symbolhafte gleichsam nur wie eine Glocke anzuschlagen - von fern ihren frühesten, ihren vielleicht unverfälschtesten Klang zu hören und ansonsten doch immer in der gegenwärtigsten, der elendsten Gegenwart zu bleiben. Wahrscheinlich ist es mehr noch ein Elend im geistigen Sinne, das Elend der Verwahrlosung, wahrnehmbar auch in anderen asiatischen Filmen auf dieser Berlinale. Allein Rais Vaters Schuppen, wie er dort am Meer steht. Ein Schuppen am Meer. Das muss sie sein, die Trostlosigkeit. Rais Refugium. Alle lachen über den Schuppen, genau wie über Rai, denn darin sitzt ein riesenhafter Buddha - ganz aus Blech. Und Rai, der Idiot, hat ihn gebaut. Einen ewig unfertigen Blechbuddha. Zu mehr wird er es nicht bringen im Leben. Aber jemanden gibt es im Dorf, der ist vielleicht noch fremder auf der Welt als er selbst. Die junge blinde Masseuse Yuma, die manchmal Rais Bruder, den Bandenführer, massiert. Und dann sagt sie jedesmal zu ihm: "Weißt du noch, als wir Kinder waren? Du hast mich gerettet, als die anderen mich mit Steinen bewarfen!" - Und immer antwortet der Bandenführer Shiba: "Nein, ich erinnere mich nicht." Die blinde Masseuse liebt den Bruder des Idioten.

In Heiligenlegenden geschieht es manchmal, das Lahme wieder gehen können und Blinde sehend werden. Hier auch. Die blinde Masseuse kann in Wirklichkeit schon längst wieder sehen. Nur weiß das noch keiner. Sie hat es niemandem gesagt. Denn sehen tut so weh. Sie war viel sicherer, viel geborgener in ihrer Blindheit. - Nein, solche Dialektiken kommen nicht vor in den Heiligenlegenden. "Hotoke" ist ihr Ruf und Widerruf zugleich. Er ist voll abgründiger Grausamkeit und wunderbarer Poesie, beides ganz dicht nebeneinander. Dem Ton nach ist er eine Elegie. Oder doch Tragödie?

Herkömmliche Heiligenlegenden sind die Verbürgung des guten Endes. Tsujis "Hotoke" dagegen, wir ahnen es bald, ist die Verbürgung des schlimmen Endes. Die antike Tragödie in einem japanischen Fischerdorf am Ende der Welt. Und mindestens so blutig. Wie beiläufig wir erfahren, dass die kleine Yuma schon als kleines Mädchen bei ihrem Vater liegen musste. Wie beiläufig die Mutter es noch immer von ihr fordert. Und im nächsten Bild gießt Rai, der Idiot, seine Blumen neben dem Schuppen.

Yuma liebt den Bandenführer Shiba. Rai, der Idiot, liebt Yuma. Er weiß als einziger, dass Yuma längst nicht mehr blind ist. Idioten sehen solche Dinge. Sie wissen mehr über sehend-blinde Mädchen als diese von sich selbst. Nur wenn sie lieben, vergessen sie manchmal sogar ihr Idiotsein. Und beweisen der Geliebten und aller Welt, dass sie genau so kämpfen, genauso Ohren mit Samuraischwertern abhauen können wie die anderen.

Vielleicht haben die Heiligen darum vorsichtshalber nie Frauen geliebt. Nein, "Hotoke" ist niemals eine Heiligenlegende. Nur in diesem einzigen Sinn vielleicht: Wenn die Un-Gewöhnlichen ganz Mensch, ganz Liebende werden, verlieren sie die Gabe, anderen in durch die blind-sehenden Augen in die Seele zu schauen. Denn sie gehen ein in die Verblendung. Jinsei Tsuji legt die falsche Fährte beherzt aus: Das Weib, selbst das schwächste, wählt immer den stärksten Mann. Also Shiba, nicht Rai. Aber Shiba hat Nein! gesagt, als die anderen Kinder das Mädchen mit Steinen bewarfen. Manchmal genügt das für ein Überleben. Und um den Falschen zu lieben. Auf ewig.

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