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Panorama und Forum: Weg ohne Wiederkehr

Globalisierung in der Nussschale: Zahlreiche Filme aus den Nebenreihen beschäftigen sich mit Nomaden, mit Flucht, Migration und Menschenhandel.

Michael Winterbottoms halbdokumentarisches Flüchtlingsdrama „In This World“, an Originalschauplätzen mit Laiendarstellern gedreht und 2003 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, prägt bis heute die Dramaturgie und Ästhetik von Filmen, die sich mit Flucht, Zwangsmigration und Menschenhandel auseinandersetzen: von einer hektischen Handkamera eingefangen, schonungslos, unmittelbar, authentisch. Die meisten Filme, die sich dieses Themas annehmen, unternehmen die Gratwanderung, gleichzeitig einen spannenden Einzelfall schildern und auf ein allgemeines Problem aufmerksam machen zu wollen. Die Protagonisten sollen beides sein: eigenständiger Charakter und menschliches Antlitz eines systemischen Problems, ein spektakuläres Einzelschicksal, herausgegriffen aus einer Unzahl von Fällen.

Von den thematisch verwandten Beiträgen des diesjährigen Berlinale-Programms kommt Tony Gatlifs „Indignados“ (Panorama) dieser Strategie am nächsten. Inspiriert von Stéphane Hessels Pamphlet „Empört Euch!“, handelt der Film von einer Nordafrikanerin, die als illegale Einwanderin nach Europa kommt und dort auf ein menschenverachtendes Abwehrsystem, aber auch auf eine sympathisierende Protestbewegung trifft. Den dokumentarischen Stil bricht Gatlif immer wieder durch metaphorische Bilder und Tanzszenen auf, die den Einzelfall zugunsten des allgemeinen Problems in den Hintergrund treten lassen.

Noch deutlicher ist diese Gewichtung im Dokumentarfilm „Habiter/Construire“ (Forum), der den Blick aufs Partikulare richtet und doch das große Ganze im Sinn hat. In sachlichen Bildern beobachtet Regisseurin Clémence Ancelin den Bau einer asphaltierten Straße im Tschad und entwirft dabei ein faszinierendes Miniaturmodell der Globalisierung. Die Nomaden, deren Ziegen der zu erwartende Verkehr gefährdet, gehören nicht zu den Profiteuren. Die anliegenden Dörfer verändert die Straße erheblich, viele Männer heuern auf der Baustelle an oder errichten an der Straße Kioske. Und dann gibt es noch diejenigen, die am Bau beteiligt sind, Ingenieure aus Europa und afrikanische Arbeiter.

In ihrer Siedlung leben sie streng nach Herkunft und Lebensstandard getrennt, doch selbst die schlichtesten Bungalows haben mit Strom und Wasser ein höheres Niveau als alle Dörfer weit und breit. Die Straße wird Menschen verbinden und Familien auseinanderreißen, Wohlstand bringen und Abhängigkeit schaffen.

Der experimentelle Dokumentarfilm „Jaurès“ (Forum) geht noch einen Schritt weiter, indem er Migration nicht mehr narrativiert, sondern nur noch als Phänomen zeigt. Aus dem Fenster der Pariser Wohnung seines Geliebten Simon filmt Regisseur Vincent Dieutre afghanische Flüchtlinge, die unter einer Brücke in einem behelfsmäßigen Lager hausen. Er hält die Distanz ein, hebt keine wiedererkennbaren Protagonisten hervor und entwickelt keine Geschichten.

Die Geschichte, um die es geht, spielt sich hinter der Kamera ab, es ist seine Liebesgeschichte mit Simon. In einer reflektierenden Ebene betrachtet Dieutre das gedrehte Material mit der befreundeten Schauspielerin Eva Truffaut und spricht über seine Beziehung zu Simon, der Menschenrechtsaktivist ist und den Dieutre dafür bewundert, dass er die Flüchtlinge als Individuen wahrnimmt. Indem der Film das nicht tut, führt er vor Augen, wie wenig selbstverständlich Simons Verhalten ist.

Flüchtlinge existieren am Rand der Gesellschaft, die meisten Menschen blenden sie aus ihrer Wahrnehmung aus. Flüchtlinge ins Zentrum zu rücken bedeutet, diese Strukturen zu brechen. So beginnt „Una Noche“ (Generation 14plus) mit einer blonden Teenagerin in einem Cabrio, doch das Bild wird sofort durch die Erzählerin widerlegt. „Dies ist nicht ihre Geschichte“, sagt sie. „Es ist meine.“ Regisseurin Lucy Mulloy zeigt, dass Erzählstrukturen Machtstrukturen sind, indem sie sie explizit umdreht. In der folgenden Geschichte über die Flucht dreier junger Kubaner Richtung USA taucht die blonde Touristin nur als Randfigur auf, so wie die Kubaner in der dominanten Perspektive der Touristen Randfiguren sind.

Sehr viel weniger bekannt als die Flüchtlingsproblematik zwischen Kuba und den USA ist das Thema der innerafrikanischen Arbeitsmigration. So verlassen etwa viele junge Burkiner ihr Land Richtung Elfenbeinküste, um dort auf Kakaoplantagen zu arbeiten. Der Traum vom schnellen Reichtum erfüllt sich für die wenigsten, die meisten kommen nie oder erst sehr viel später zurück. Regisseur Michel K. Zongo vollzieht in „Espoir Voyage“ (Forum) so eine Biografie am Fall seines Bruders Joanny nach, der Ende der siebziger Jahre fortgegangen war und 15 Jahre später an Malaria starb, ohne seine Familie wiedergesehen zu haben. Auf der Suche nach Joannys Spuren reist Zongo in die Elfenbeinküste, dort trifft er auf Cousins, die ihm bei der Suche helfen. „Wir sind nicht wie die Europäer, die Hunderte von Jahre zurückgehen können, um nach den Spuren einer Person zu suchen“, sagt einer der Cousins. „Wenn wir umziehen oder sterben, verschwinden wir.“

Den Hintergrund von Pedro Pérez Rosados Spielfilm „Wilaya“ (Panorama) bildet der ungeklärte Status des Staates Westsahara, der nach dem Abzug der Kolonialmacht Spanien von Marokko und Mauretanien annektiert wurde. Ein Großteil der Bevölkerung lebt in algerischen Flüchtlingslagern, einige Kinder wachsen in spanischen Gastfamilien auf. Der Film erzählt von der schwierigen Rückkehr aus einer solchen Gastfamilie ins Lager. Anstatt mit der hektischen Handkamera wird die Geschichte in schöne, ruhige Nahaufnahmen gefasst. Indem die Figuren nicht als Gegenstand einer Reportage behandelt, sondern als Akteure eines Films ernst genommen werden, wahren sie ihre Würde.

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