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Kultur: Paraden und Kniefälle

Das DHM eröffnet das Zeughaus – und zeigt Fotos der deutschen Geschichte

110 Jahre deutscher Geschichte in etwas mehr als doppelt so vielen Bildern – das ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Das Deutsche Historische Museum hat es trotzdem versucht und sich von der Komplexität des Themas nicht einschüchtern lassen. Aus seinen umfangreichen Beständen hat es 260 Werke ausgewählt – herausgekommen ist die angenehm überschaubare Ausstellung „Das XX. Jahrhundert – Fotografien zur Geschichte 1880 -1990“ (bis 27. Juni), die aus Anlass der Wiedereröffnung des wegen Umbaus lange geschlossenen Zeughauses nicht nur einige der berühmtesten Fotos der Epoche zeigt. Es gibt auch Aufschluss über die Entwicklung eines Mediums, das immer noch viel Macht besitzt – manchmal so viel wie die Mächtigsten der Mächtigen.

Ein Foto kann repräsentieren, manipulieren, decouvrieren, es kann die Zeit anhalten, Vergangenes in Erinnerung rufen und Regierungen stürzen. Doch vor dem Fotografen sind zunächst alle Motive gleich. Die ältesten Bilder der Ausstellung zeigen, wie erfolgreich sich die Fotografie ins bürgerliche Leben einschlich, wie stark sie die Selbstdarstellung prägte. Es kam wohl nicht allzu häufig vor, dass Kaiser Wilhelm II. sich von jemandem etwas sagen liess – außer von Emil Bieber, seinem Hoffotografen, der ihn um 1910 als Generalfeldmarschall aufnahm und den Befehl ausgab: „Stillgestanden!“.

Doch auch die sozialen Bewegungen profitierten von der wachsenden Verbreitung der Fotografie, in manchen Fällen verschaffte sie ihnen überhaupt erst Gehör. Schmerzhaft sind die Kontraste zwischen den sorgsam arrangierten Studioaufnahmen von Soldaten wie den Angehörigen des Reservebataillons Nr. 24, die 1915 vor Wilhelm Mauß in Marburg posierten und jenen Bildern, die fünf Jahre später eine Demonstration von Kriegsversehrten auf dem Wittenbergplatz wiedergeben.

Nach dem ersten Weltkrieg schlug dank verbesserter Fototechnik und leichterer, kleinerer Kameras die große Stunde der Reportagefotografie: Dramatisch die Entschlossenheit in den Gesichtern der bewaffneten Arbeiter, die sich nach der Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn am 5. Januar 1919 daran machten, das Gebäude der SPD-Zeitung „Vorwärts“ in der Lindenstraße zu besetzen; dramatisch auch die übrigen Bilder von Streiks während der Weimarer Republik. Sei es vor den Toren der Berlin-Anhaltinischen Maschinenbau AG, sei es vor einem Ledigenheim im Wedding, wo dessen Mieter mehr Rechte für sich forderten.

Die Ausstellung im Pei-Bau des DHM ist nicht zuletzt deshalb so eindrucksvoll, weil sie alle möglichen Formen der Fotografie zusammenbringt, die politische und die private, die dokumentarische und ganz banale Schnappschüsse. Eine Autoreparatur in Halle/Saale als Ausdruck „kollektiver Freizeitgestaltung“ in der DDR, die Auslagen von Geschäften in Ost-Berlin, der Sturm auf das Buffet während einer Festveranstaltung der Max-Planck-Gesellschaft in München, das alles sind Fotos, die beweisen, dass die Behauptung, „ein Foto“ sage „mehr als tausend Worte“, nicht nur eine verbrauchte Binsenweisheit ist.

Im „XX. Jahrhundert“ macht die Geschichte große, übergroße Schritte. Vom Kniefall Willy Brandts bis zu den Volksfesten in der Nacht des 9. November 1989 sind es hier nur ein paar Meter – andere Distanzen werden lang und länger: Das Zusammentreffen von Leonid Breschnew und Brandt ist erst 30 Jahre her – und doch scheint es Lichtjahre entfernt.

Ulrich Clewing

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