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PAUKEN & Trompeten: Nicht nur für Wandervögel

Jörg Königsdorf über ein Stück Holz, das Musikgeschichte schrieb.

Im Jahr 1919 präsentierte Arnold Dolmetsch seinen Freunden wieder einmal ein neues Instrument. Nach einem historischen Original hatte der damals bereits 61-jährige englische Alte-Musik-Pionier, der sich schon erfolgreich für die Wiederentdeckung von Viola da Gamba und Cembalo eingesetzt hatte, die erste Blockflöte des 20. Jahrhunderts gebaut. Ein Stück Holz, das Musikgeschichte schrieb: Schon Ende der zwanziger Jahre, bald nachdem Dolmetsch auf seinem Early-Music-Festival in Haslemere seinen ersten kompletten Flötensatz präsentiert hatte, wurde die Blockflöte (neben der Gitarre) vor allem in Deutschland zum Lieblingsinstrument der Wandervogel-Bewegung und zum idealen Vehikel für die musikalische Früherziehung. Dem Ruf des Instruments taten der Ruch von Spielmannsmusik und vor allem die Vereinnahmung durch den Musikunterricht natürlich nicht gerade gut: Auch wenn der pädagogische Einsatz der Blockflöte längst rückläufig ist, setzt die Erinnerung an quälende Blockflötenkreis-Nachmittage, verkrampfte Finger und kreuzöde Weihnachtslieder-Arrangements bei vielen noch immer allergische Reaktionen frei. Wer sich jedoch von seiner Flautophobie heilen lassen möchte, hat dazu heute im Radialsystem die Gelegenheit: Im Rahmen des „Schweizgenössisch“- Festivals, das einen Querschnitt durch die alpenländische Hochkulturszene bieten soll, gastiert dort der wohl aufregendste Blockflötist, den die Klassikwelt derzeit zu bieten hat. Mit seinem Turboton bläst Maurice Steger jeden Gedanken an Blockflötenbiederkeit weg, und wenn der schlanke Schweizer sich zurückbiegt, um einen brillanten Lauf in den Saal zu pusten, sieht das eher so aus, als würde er eine barocke Frühform des Saxofons spielen. Wenn Steger spielt, brennt die Luft – der Telemann beispielsweise, den er mit der Berliner Akademie für Alte Musik aufgenommen hat, klingt so lust- und kraftvoll (inklusive eines kräftigen Vibrato-Einsatzes), dass die Blockflötenspieler älterer Generationen von Frans Brüggen bis Michala Petri dagegen ziemlich brav wirken. Auch das virtuose Notensperrfeuer, das er auf seiner neuen CD „Venezia 1625“ loslässt, will man natürlich live hören und sehen. Dem Festival-Anlass eidgenössischer Identitätspräsentation gemäß kombiniert er die frühbarocken venezianischen Toccaten und Sonaten heute Abend mit Improvisationen über Graubündner Volksweisen.

Jörg Königsdorf

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