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PAUKEN & Trompeten: Raus aus der Plüschgrotte

Jörg Königsdorf walzt mit Brahms

Kein Werk verkörpert die bürgerliche Musikkultur so rein wie Johannes Brahms’ 1869 erschienene Liebeslieder- Walzer. Schon der Titel allein beschwört langbärtige Herren mit Gehröcken und glitzernden Uhrketten, Damen mit geschnürten Taillen und aufgetürmten Frisuren, schummrige Plüschgrotten mit gedrechselten Möbeln und bauchigen Petroleumlampen herauf – eine ferne Welt, die ihre Sehnsüchte lieber auf die Kunst projizierte, statt sie auszuleben. Dass spätere Generationen da erst mal Abstand brauchten, ist verständlich: Die alten Möbel wanderten auf den Sperrmüll und die Noten mit „Deutschen Volksliedern“, „Klängen aus Mähren“ und eben auch den „Liebeslieder-Walzern“ wurden ans Antiquariat verscherbelt. Mittlerweile ist diese Musik jedoch so fremd geworden, dass es an der Zeit ist, sie wieder zu entdecken – und wie oft bei solchen Fällen, stellt man fest, dass sie eigentlich viel besser ist als man gedacht hatte. Für die Liebeslieder-Walzer gilt das allemal.

In der wunderbaren Neuaufnahme, die vor ein paar Monaten bei harmonia mundi erschien, tanzen Marlis Petersen, Stella Doufexis, Werner Güra und Konrad Jarnot einen Reigen wechselnder Paarkonstellationen: Ironie und Attitüde, Herz, Schmerz und Liebeswonne lösen einander in rasantem Tempo ab – und besitzen eine jugendliche Frische und Vitalität, die nichts mit nostalgischer Dreivierteltakt-Sentimentalität zu tun hat, sondern ganz gegenwärtig ist. Für sein Berliner Konzert heute Abend hätte man dem hochkarätigen Gesangsquartett mithin lieber ein nettes Lokal statt den etwas muffigen kleinen Saal des Konzerthauses gewünscht.

Immerhin ist der Saal erträglicher als der Apollo-Saal der Staatsoper, in dem Hanno Müller-Brachmann am Montag seinen Schumann-Liederabend bestreiten muss. Akustisch heikel war die Badewanne aus Stuckmarmor schon immer, und seit die alten Sessel gegen eine nüchterne Bestuhlung ausgetauscht wurden, hat sie auch noch viel an Charme eingebüsst. Man sollte sich also möglichst eng um den Flügel scharen, denn verpassen sollte man das Recital auf keinen Fall: Gerade erst hat Müller-Brachmann mit seinem Leporello im neuen „Don Giovanni“ gezeigt, dass er nicht nur bestens in Form ist, sondern auch zu seiner Stimme steht: Statt sie wie früher künstlich aufzublähen, zeigt er jetzt den metallischen Kern seines Bassbaritons. Der falsche Bart ist ab, und endlich hört man einen Menschen mit Ecken und Kanten. Nicht die schlechteste Voraussetzung, um Schumanns Liederkreisen den nötigen Schuss Bitternis und Lebensüberdruss zu verleihen.

Jörg Königsdorf

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