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Kultur: Peitschen, Pipelines, Partisanen

Kampf ums Gas: Seit dem Mittelalter liegen die Brudervölker der Russen und Ukrainer im Zwist

Zu vorgerückter Stunde pfeifen russische Tafelrunden auf Kalinka oder Kasatschok und bevorzugen ukrainisches Liedgut. Mit verklärtem Blick und voller Hingabe an die zündenden Rhythmen, mit denen sich die schöne Ruslana beim „Eurovision Song Contest“ vor zwei Jahren in Istanbul sogar in die Herzen der Westeuropäer sang. Die Domina aus den Karpaten kam und siegte – mit Peitsche und knapper Lederbekleidung.

Ruslana gewann überraschenderweise auch mit den Stimmen der russischen Zuschauer: ein Indiz für die komplizierte Beziehung zwischen Russland und der Ukraine. Viele fühlten sich bei ihrem furiosen Auftritt auch an Sofia Rotaru erinnert, die einzige nichtrussische Pop-Diva, die es zu Sowjetzeiten zu landesweiter Berühmtheit brachte. Dabei sang Sofia Rotaru sogar auf Ukrainisch, in einer Sprache, bei deren Klang etliche Russen sich auf einer Zeitreise wähnen: zurück zu jener archaischen Variante ihres eigenen Idioms, das als Kirchenslawisch alle Anfechtungen der Moderne wie unter einem Glassturz überstand. Eine Sprache der letzten Geheimnisse, der Offenbarung Gottes. Und eine Brücke zu den gemeinsamen Wurzeln der Ostslawen: Russen, Ukrainer und Weißrussen. Mit gemeinsamer Kultur und Mentalität.

Nein, es geht nicht nur um Gas beim gegenwärtigen Preisboxen zwischen Moskau und Kiew. Und es geht nicht nur um die große Politik, sondern auch um die Interpretation der über tausendjährigen gemeinsamen Geschichte, bei der beide Seiten für sich beanspruchen, im Besitz der allein selig machenden Wahrheit zu sein.

Zwar gelten Ehen zwischen Russen und Ukrainern bis heute nicht als Mischehen, und auch der Streit um die Urheberschaft für kulinarische Highlights wird mit einem Gläschen des gemeinsamen Nationalgetränks Wodka stets friedlich beigelegt. Und doch bescheinigt der Schriftsteller Alexander Solschenizyn Russen wie Ukrainern einen „gewalttätigen Nationalcharakter“. Ein cholerisches Temperament bekommt einer Partnerschaft selten gut. Auch dem russisch-ukrainischen Verhältnis nicht, das über weite Strecken von Hassliebe geprägt ist. Es ist wie bei alten Ehepaaren: Russen und Ukrainer können es miteinander nicht recht aushalten, aber ohne den anderen längst nicht mehr leben. In guten Stunden zehren sie von gemeinsamem Glanz und Gloria, in bösen, wie jetzt beim Streit um das russische Gas, rechnen sie einander mit alttestamentarischer Gründlichkeit all die Gemeinheiten vor, die sie einander in der Geschichte zugefügt haben.

Aus dem Russischen übersetzt bedeutet Ukraine in etwa „am Ende, am Rande“. Aus russischer Perspektive ist das eine durchaus verständliche Bezeichnung für das Land an der Südgrenze des Großfürstentums Moskau, das erst im 16. Jahrhundert, nach der Eroberung der Tatarengebiete an der Wolga, des Kaukasus und Sibiriens, zum weltweit größten Flächenstaat expandiert. Hier liegen jene Regionen, in denen russische wie ukrainische Geschichtsschreiber die Geburt des jeweils eigenen Staates ansiedeln. Dort nämlich entsteht im 9. Jahrhundert der erste Staat der Ostslawen – die Kiewer Rus. Von Kiew aus werden die russischen Lande auch allmählich christianisiert. Durch byzantinische Mönche, die 899 Fürst Wladimir zur Taufe bewegen und den Ostslawen kurz darauf auch eine eigene Schrift schenken: ein auf dem Griechischen basierendes Alphabet, das die Besonderheiten der konsonantenreichen Slawen-Sprachen berücksichtigt.

Entwickelt haben es zwei bulgarische Mönche: Kyrill und Methodi. Das kyrillische Alphabet benutzen heute über 200 Millionen Menschen, neben Russen und Ukrainern auch Weißrussen, Bulgaren, Serben, Montenegriner und Mazedonier. Doch weder das gemeinsame orthodoxe Bekenntnis noch das gemeinsame Schrifttum sorgen für eine langfristige Bindung der Ostslawen an ihren Staat.

Bald schon trennen sich die Wege von Russen und Kleinrussen, wie die Moskowiter ihre südlichen Nachbarn damals nennen. Immer wieder verdüstert der großrussische Hegemonieanspruch wie ein Schlagschatten die Geschichte der beiden Völker. Während die Moskauer Großfürsten in ihren Ländereien schon im 11. Jahrhundert eine Autokratie etablieren, basiert die Macht der Kollegen in Kiew auf Verträgen mit den Untertanen. Das hat Folgen, die bis in die Gegenwart reichen und den russisch-ukrainischen Historikerstreit immer wieder anfachen.

Nach Meinung vieler russischer Historiker hätte die Kiewer Rus bei gelenkter Demokratie und straffer Machtvertikale womöglich noch Jahrhunderte überdauert. Eine höchst anfechtbare These: Auch gefestigte Großreiche gehen unter, als im frühen 13. Jahrhundert der Mongolensturm über Asien und Osteuropa fegt. Die Kiewer Rus fällt den Steppenkriegern wie ein reifer Apfel in den Schoß. Kaum auferstanden aus Ruinen, werden ihre Nachfolgestaaten schnell Beute der neuen aufstrebenden Großmacht Polen, das sich 1385 mit Litauen zur Doppelmonarchie vereinigt.

Beide verleiben sich zunächst den Westen der einstigen Rus ein – Galizien und Wolhynien, dann die Region um Kiew. Der Rzecz Pospolita, die Polen und Litauer 1569 als eine Art Prototyp des britischen Commonwealth gründen, gehört bereits das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine an. Deren Adel tritt zum Katholizismus über, der in Polen wie in Litauen zur Staatsreligion wird und damit zur Voraussetzung für Hofämter und Pfründe. Das Volk indes bleibt orthodox und damit im Einflussbereich des Moskauer Patriarchats, das nach der Eroberung Konstantinopels durch die osmanischen Türken 1453 die geistliche Oberherrschaft über die gesamte orthodoxe Christenheit beansprucht. Der Dauerstreit um das Land erfasst auch die Religion.

Auf Druck Polens werden die ukrainischen Christen 1596 dem Vatikan unterstellt. Riten und Liturgie bleiben dennoch orthodox. Die neue Kirche kann jedoch nur am rechten, westlichen Ufer des Dnjepr Fuß fassen. Am Ostufer ziehen die Kosaken bei Aufständen gegen die polnischen Herren mit orthodoxen Ikonen und Kirchenfahnen ins Feld.

Unter ihrem Anführer Bogdan Chmelnizki fällt die Ostukraine 1648 definitiv von Polen ab und stellt sich 1654 unter den Schutz des russischen Zaren, der ihr die Autonomie verspricht. Als Polen im 18. Jahrhundert dreigeteilt wird, kassiert Russland auch den Löwenanteil der Westgebiete ein.

Doch die Fronten bleiben, auch in den Bürger- und Interventionskriegen nach der Oktoberrevolution 1917. Der Osten der Ukraine wird zu einer der Hochburgen der Bolschewiki, der Roten. Den Westen kontrollieren die zarentreuen Gegenspieler, die Weißen. Kurzzeitig unabhängig, wird die Ukraine bald erneut geteilt. Der Westen geht mehrheitlich an das wiedererstandene Polen, der Osten wird Teil der Sowjetunion; Stalin siedelt hier Millionen ethnischer Russen an, oft unter Zwang. Für ambitionierte Industrialisierungsprogramme, mit denen die Region zum „stählernen Herzen“ des Imperiums hochgerüstet wird, fehlt es an Arbeitern. Gleichzeitig sterben bei den Hungersnöten im Winter 1932/33 sieben Millionen Menschen in der Ukraine. Denn Stalin verscherbelt den dortigen Weizen in den Westen, obwohl die Landwirtschaft in der einstigen Kornkammer durch die Zwangskollektivierung am Boden liegt.

Für diesen Massenmord hat sich Moskau bis heute ebenso wenig offiziell entschuldigt wie für den Hitler-Stalin-Pakt, der Polen 1939 ein weiteres Mal teilt. Kaum ist die Westukraine wieder sowjetisch, formiert sich dort eine PartisanenArmee. Ihre letzten Einheiten liefern Moskau bis Ende der Fünfzigerjahre einen Guerillakrieg wie heute die Tschetschenen, mit denen die Westukraine offen sympathisiert.

Unabhängig ist die Ukraine wieder seit der Auflösung der Sowjetunion 1991. Aber mit dem Freundschaftsvertrag zwischen den beiden verwandten Nationen ist es wohl doch nicht weit her: Wenn Russlands Präsident Wladimir Putin dem ukrainischen Bruder jetzt das Gas abstellt, will er damit auch das Rad der Geschichte zurückdrehen.

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