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Maestro mit Disziplin und Leidenschaft. Peter Eötvös.

© Klaus Rudolph

Peter Eötvös dirigiert Philharmoniker: Wenn 140 Musiker im dröhnenden Verkehrslärm spielen

Peter Eötvös und die Berliner Philharmonikern wagen sich beim Musikfest an „Amériques“, ein Monsterwerk aus Musik und Krach. Sie verleihen ihm eine eigene Note.

Kann Quantität eine Qualität sein? Aber ja, Edgar Varèses um 1920 entstandenes Monsterwerk „Amériques“ ist der schönste Beweis. Wenn 140 Musiker, darunter 22 Blechbläser und 18 Schlagzeuger, den Klang von New York entfalten, wenn sie Strawinskys „Sacre“ beschwören, dazu Debussy, Mahler, Richard Strauss im dröhnendem Verkehrslärm samt Autohupen und Jazz-Fetzen aufscheinen lassen, dann wird schon die schiere Wucht zur Sensation.

Wobei die Berliner Philharmoniker unter Leitung von Peter Eötvös nie dem reinen Krach frönen, sondern bei der Musikfest-Aufführung dieser nicht reduzierten Ursprungsfassung den individuellen Ton zu retten versuchen.

Es wimmelt von Einzelstimmen in „Amériques“. Schon wenn die Altflöte anfangs beharrlich ihr „Sacre“-Klagemotiv wiederholt, lässt Eötvös die in Terzen pendelnde Harfe zurückhaltend trocken, fast perkussiv akkompagnieren. Ob Kastagnetten, Flageolettpoesie, die Fanfaren des Fernorchesters, Tanzepisoden oder die Orientalismen der Holzbläser, sie überleben als Fragmente, als Signets der Sehnsucht.

Varèse lässt Gnade walten, kulminiert die Klangmassen lieber im rauschenden Glissando oder in engmaschigen synkopischen Mustern als in archaisch stampfenden Rhythmen wie bei Strawinsky. In der Simultanität von alter und neuer Welt feiert „Amériques“ das Unregelmäßige, heute würde man sagen: die Diversität.

Henry Miller nannte den 1915 in die USA ausgewanderten Franzosen Varèse einen „stratosphärischen Klangkoloss“, seine Werke machten Skandal. Auch der aus Griechenland nach Paris emigrierte Iannis Xenakis erfuhr erst späte Anerkennung.

Quantität kann auch Qualität bedeuten

Seine symphonische Dichtung „Shaar“ für 60 Streicher gehorcht den Regeln des (Bienen-)Schwarmverhaltens. Wieder hinterfragt Eötvös die Grenzen der kollektiven Autorität, wenn die mächtigen Unisono-Glissandi ausfransen und die Hitchcock’schen „Psycho“-Streicherhiebe in Verwirbelungen münden.

Großartig, mit welcher Disziplin und Leidenschaft die Philharmoniker die finale Fortissimo-Klangblüte fast aus der Stille heraus entfalten.

Begonnen hat der Abend mit der deutschen Erstaufführung von Eötvös’ Violinkonzert Nr. 3 „Alhambra“, einer tönernen Erkundung des maurischen Nasridenpalasts, die im Juli in Granada uraufgeführt wurde.

Isabelle Faust ist eine Virtuosin der Sorgsamkeit, horcht die Klänge ab, als handele es sich um verletzliche Kreaturen, wechselt mühelos von übergroßen Intervallschritten über Pianissimo-Tinnitustöne zu schroffen Einwürfen und animiert das Orchester zu Tremolo-Gesängen.

In der Alhambra, deren Name dem Tonmaterial unter anderem als Kryptogramm zugrunde liegt, mischen sich europäische und arabische Kulturen. Je mehr, desto meisterlicher. Wie gesagt, Quantität kann eine Qualität sein.

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