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Gestoppte Hoffnung. Die griechisch-mazedonische Grenze in Idomeni.

© Reuters/M. Djurica

Peter Schneider über AfD und Flüchtlinge: "Asyl darf kein Pauschalrecht sein"

Der Schriftsteller Peter Schneider spricht im Interview über Angela Merkels Flüchtlingspolitik, die AfD und die neue deutsche Debatten-Unkultur.

Der Schriftsteller und kritische Intellektuelle Peter Schneider, 75, lebt in Berlin. Zu seinen wichtigsten Werken gehören die Romane "Lenz", "Der Mauerspringer" und "Paarungen" sowie der Erinnerungsband "Die Lieben meiner Mutter". 2015 erschien sein Berlin-Buch "An der Schönheit kann's nicht liegen" (Kiepenheuer & Witsch).

Herr Schneider, eins der meistbenutzten Wörter in der Wahlnacht letzten Sonntag war „Schockstarre“. Wie geht es Ihnen mit dem zweistelligen Wahlerfolg der AfD?

Viele haben doch so einen Sieg vorausgesagt, mich hat er nicht überrascht, auch wenn ich nicht mit 24 Prozent in Sachsen-Anhalt gerechnet hatte. Was mich wunderte, waren die Schnelldeutungen etwa eines Jakob Augstein: Es handele sich um einen Wahlsieg Angela Merkels. Es gehört schon eine sehr selektive Wahrnehmung dazu, den Sieg der AfD zu ignorieren und den Erfolg von Winfried Kretschmann und Malu Dreyer auf deren Unterstützung von Merkels Flüchtlingspolitik zurückzuführen. Nein, bei dieser Wahl waren die Personen wichtiger als die Programme. Das Zweite: Die AfD konnte einen so hohen Sieg nur erringen, weil es in Sachen Flüchtlingspolitik außer der CSU keine Opposition gab, keine praktische Alternative zur „alternativlosen“ Kanzlerin. So entstand ein Vakuum für ein Protestpotenzial, auf dessen dauerhafte Zuneigung die AfD aber nicht zählen kann.

Sie sind 2015 mit Monika Maron zur Pegida-Demo nach Dresden gefahren und haben geschrieben, man brauche die Pegida-Anhänger nicht zu fürchten. Nach wie vor nicht?
Das war vor der Übernahme der Pegida durch den Kleinkriminellen Bachmann, und so pauschal habe ich nicht entwarnt. Ich sah damals viele ratlose weiße Männer, kaum Frauen, keine Ausländer – eine unsympathische Mischung. Die Öffentlichkeit und die Politik haben jedoch mit zu großer Verbiesterung auf Pegida reagiert, es gibt eben auch einen linken Populismus. Es hat sich gezeigt, dass reflexhafte Denunziationen wie Rassismus und Rechtsextremismus eher der Selbstbestätigung dienen als der Analyse. Es gibt eindeutig Scharfmacher bei der Pegida und der AfD, aber die Majorität bilden konservative Bürger. Die wirklichen Extremisten toben sich im Internet und mit Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte aus.

Man darf die AfD und ihre Wähler weder tabuisieren noch kriminalisieren?
Wenn die AfD-Wahlsieger in der Wahlnacht betonen, dass sie keine Rassisten und keine Fremdenfeinde sind und „niemals sein werden“, dann bedeutet das doch etwas Gutes: dass Anti-Rassismus und Offenheit gegenüber Fremden offenbar nationaler Konsens geworden sind. Was nicht heißt, dass ich diesen Sprechern glaube.

Peter Schneider, 75, lebt in Berlin.
Peter Schneider, 75, lebt in Berlin.

© dpa

Die islamische Religionsausübung - und nur sie - soll laut AfD-Wahlprogramm eingeschränkt, die Beschneidung verboten werden: kein Rassismus, kein Antisemitismus?

Die freie Religionsausübung muss selbstverständlich gewährleistet werden. Sie muss dort eingeschränkt werden, wo sie die Trennung zwischen Staat und Religion und die Gleichberechtigung verletzt – siehe die Forderung nach Gebetsräumen in öffentlichen Schulen und Universitäten. Wir sollten diese Fragen nicht der AfD überlassen. Und was die Beschneidung betrifft: Angesichts seiner Geschichte mit den Juden ist Deutschland wohl das letzte Land, das dieses diskussionswürdige Ritual kriminalisieren sollte.

Viele Künstler reagieren mit Sorge auf den Wahlausgang. Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Berliner Akademie der Künste, möchte, dass der Verfassungsschutz die AfD beobachtet, weil die Partei das Asylrecht aushebeln will.
Wir sollten nicht gleich zum Verfassungsschutz und den Geheimdiensten rennen, um uns die AfD vom Leib zu halten. Die Auseinandersetzung mit ihr ist eine Aufgabe der Zivilgesellschaft und der anderen Parteien. Es gehört zu den wichtigsten Vorzügen der Demokratie, dass in ihr auch das Falsche gesagt werden darf, damit es öffentlich widerlegt werden kann.

Peter Sloterdijk spricht von Überrollung und „weltfremdem Humanitarismus“, Botho Strauß und Rüdiger Safranski warnen vor einer „Flutung“ des Landes mit Fremden: Wie nehmen Sie solche scharfen Äußerungen wahr?
Das sind kluge Leute, aber mich wundert der hohe, apodiktische Ton. Warum sprechen wir nicht die praktischen Dinge an und fragen Merkel, wie sie „das schaffen“ will, wenn sie jede Obergrenze kategorisch ablehnt? Es ist doch nur logisch, dass wir nicht alle Menschen aufnehmen können, die aus guten Gründen in Deutschland Zuflucht suchen und suchen werden. Was bezwecken denn die Türkei-Verhandlungen, wenn nicht den Versuch, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen und sie gar nicht erst an die Grenzen der EU gelangen zu lassen? Ist es moralisch edler, sie dort entsprechend ihrer Aussicht auf Asyl zu sortieren als erst in Idomeni?

Was schlagen Sie vor?
Sie in Kontingenten auf die EU-Länder zu verteilen, halte auch ich für die einzig sinnvolle Lösung – vorausgesetzt, die EU-Länder machen mit. Diese Lösung würde es übrigens erlauben, den Schmu mit den „sicheren Herkunftsländern“ zu beenden und auch Asylberechtigte aus diesen Ländern – in begrenzter Anzahl – aufzunehmen. Die Weigerung, eine Obergrenze anzuerkennen, gemischt mit dem Versuch, die Zahl der Flüchtlinge dennoch zu begrenzen, produziert eben solche unglaubwürdigen Konstruktionen wie die „sicheren Herkunftsländer.“ Die Kontingent-Lösung wird auf eine Begrenzung entsprechend der Aufnahme-Fähigkeit und -Willigkeit der aufnehmenden EU-Länder hinauslaufen. Das reiche Deutschland sollte mit gutem Beispiel vorangehen und würde nach der Meinung mancher Experten eine Aufnahme von 300.000 bis 500.000 Flüchtlingen pro Jahr gut verkraften.

"Sie wollen das jetzige Asylrecht abschaffen, Herr Schneider?

Peter Schneider, 75, lebt in Berlin.
Peter Schneider, 75, lebt in Berlin.

© dpa

Sie wollen das Asylrecht abschaffen, so wie es im Grundgesetz steht?
Auf keinen Fall. Ich verstehe nur nicht, warum dieses individuelle Recht pauschal auf alle Kriegsflüchtlinge angewendet wird – mit dem Resultat, dass die Behörden 700.000 unerledigte Asylanträge vorliegen haben. Warum nicht auch noch auf Millionen Klima- und Armutsflüchtlinge? Beim Bosnienkrieg wurde meines Wissens das Asylrecht nicht angewendet. 500.000 Flüchtlinge wurden damals nach der Genfer Flüchtlingskonvention aufgenommen, und die meisten wurden nach Kriegsende zurückgeschickt. Die Gründerväter der Bundesrepublik haben den Artikel 16 sicher nicht als Versprechen konzipiert, das man nicht halten kann.

Und was folgt daraus?
Ich bin kein Jurist, aber es muss ein Weg gefunden werden, das Asylrecht zu erhalten, ohne dass es zu einem Zwangsinstrument für die Aufnahme einer unbegrenzten Zahl von Flüchtlingen wird. „Wäre es nicht ehrlicher gewesen“, fragt der Historiker Heinrich August Winkler gerade auf der Leipziger Buchmesse mit Bezug auf die Änderung des Asylparagraphen 1993, „sich zu dem Prinzip zu bekennen: ‚Politisch Verfolgten gewährt die Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe ihrer Aufnahme – und Integrationsfähigkeit Asylrecht?‘“. So eine Formulierung lässt sich leicht missbrauchen, dennoch muss sie diskutiert werden. Die rot-grüne Regierung Schwedens, des aufnahmefreudigsten Staates in Europa, hat kürzlich eingestanden, das Land sei am Ende seiner Kräfte. Was bringt die deutsche Regierung zu der Annahme, dass sie irgendwann nicht auch vor einer schwedischen Entscheidung steht?

Vielleicht unsere NS-Vergangenheit?
Nach dem richtigen humanitären Akt im September 2015 hätte Angela Merkel sagen müssen: Es war eine notwendige Ausnahme, aber jetzt beenden wir das Durchwinken und erarbeiten eine europäische Lösung. Tatsächlich hat der Zustand des Durchwinkens bis in die jüngste Zeit angehalten. Mit den syrischen Kriegsflüchtlingen sind Hunderttausende von Armuts- und anderen Flüchtlingen nach Deutschland gekommen, die keine Aussicht auf Asyl haben, aber nicht abgeschoben werden können, weil ihre Herkunftsländer sie nicht wieder aufnehmen. Selbstverständlich haben auch diese Flüchtlinge das Recht auf ein besseres Leben. Aber Deutschland kann nicht alle aufnehmen, die aus guten Gründen kommen wollen.

Auch Europa als Ganzes nicht?
Anders als Schweden, Deutschland, Österreich und einige andere Länder hat sich das übrige Europa in der Flüchtlingsfrage ausgesprochen schäbig verhalten: Für die 160.000 Flüchtlinge, die in der EU verteilt werden sollen, sind bisher nur ein paar hundert Plätze angeboten worden. Das ist ein beschämendes Ergebnis. Gleichzeitig stimme ich der Warnung von Heinrich August Winkler zu: Wir sollten aus der deutschen Schuld nicht eine Ausnahmerolle ableiten, die uns nötigen würde, neuerdings als Engel der Geschichte aufzutreten. Einen deutschen „exceptionalism“ oder eine Ausnahmerolle wie die USA sollten wir nicht anstreben.

Sie selbst sprechen von falscher Vergangenheitsfixierung.
Selbstverständlich folgt aus unserer Geschichte eine besondere Verpflichtung Schutzsuchenden Schutz gewähren. Es wäre aber eine falsche Lektion aus der Vergangenheit, wenn wir unsere Nachbarn als selbstsüchtige und engherzige Nationalisten beschimpfen, statt uns für ihre Erfahrungen mit der Integration von Flüchtlingen und Migranten zu interessieren. So kommen wir nie zu einer europäischen Lösung. Überhaupt muss man mit den sogenannten Lehren aus der Geschichte vorsichtig sein. Die DDR hat sich beim Aufbau der kommunistischen Diktatur ständig auf die Lehren aus dem Nazifaschismus berufen; die 68er, zu denen ich gehörte, riefen: „Kapitalismus führt zum Faschismus, Kapitalismus muss weg!“ Komischerweise folgte die Mehrzahl der Staaten der Anti-Hitler-Koalition dem kapitalistischen Gesellschaftsmodell und tut es noch.

Wie hältst du’s mit den Flüchtlingen? Es ist eine Gretchenfrage geworden, sie spaltet die Nation. Ist das in Ihrem Umfeld auch so?
In Deutschland ist eine Streit-Unkultur entstanden, wie ich sie seit den Zeiten der RAF nicht mehr erlebt habe. Wenn ich sage: Flüchtlinge sind willkommen, aber nicht in unbegrenzter Zahl, erwidert mein Gegner nicht: Ich vertrete im Gegensatz zu S. die Auffassung, alle Asylsuchenden aufzunehmen, sondern: Der Altlinke S. ist plötzlich weit nach rechts gerückt, er hört sich wie ein Sprecher der AfD an, ist xenophob und wahrscheinlich ein Rassist. Für einen Voltaire mit seinem Toleranzedikt für den, der anderer Meinung ist, gibt es in dieser Debatte keinen Platz mehr.

Einige Kulturschaffende wie Volker Schlöndorff, Daniel Barenboim oder David Chipperfield haben sich bei Merkel mit einem Brief und mit Rosen bedankt. Sie wünschen sich, dass Deutschland die Völkerwanderung von morgen „mit Herz und Verstand“ bewältigen möge. Sie sich auch?
Nichts gegen Rosen für Merkel, aber eher zum Geburtstag. . Denn Merkel hat ja gerade nicht erklärt, wie Deutschland und Europa mit den kommenden Flüchtlingsströmen umgehen sollen. In der Tat: Wir stehen am Anfang einer neuen Epoche. Der Zustrom aus Afrika oder dem Mittleren Osten ist erst der Anfang und wird nicht in ein paar Jahren abebben. Nach und mit ihm werden die Armuts- und die Klimaflüchtlinge kommen. Wir werden in Europa mit zig Millionen Flüchtlingen und Zuwanderern zurechtkommen müssen. Mit dem Satz ,Ich beharre auf meinem Standpunkt: keine Obergrenze!‘ wird es nicht getan sein.

Welche Aufgabe hat der engagierte Schriftsteller, als der Sie sich auch selber verstehen, in dieser aufgeheizten Stimmung?
Er muss sein Unterscheidungsvermögen und sein unabhängiges Denken mobilisieren. Er darf sich nicht zur Selbstzensur verführen lassen, aus Angst, seine Überlegungen könnten dieser oder jener verhassten Gruppe zugeordnet werden. Die Frage, ob ein Satz wahr ist, ist wichtiger als die, in welches Lager ich mit dem Satz gerate. Die political correctness ist zu einer Art Ersatzdenken und einem Machtspiel verkommen. Wenn ich Sie eine Rassistin nenne, stelle ich mich moralisch über Sie und gebe gleichzeitig zu erkennen, dass ich über eine derartige Beschuldigung erhaben bin.

Die AfD möchte die Kulturinstitutionen zu einem positiven Deutschland-Bezug verpflichten. Abgesehen davon, dass es mit der Kunstfreiheit dann vorbei wäre: Brauchen wir eine Leitkultur?
Nein, wir brauchen keine „deutsche Leitkultur“ und müssen den Flüchtlingen und Zuwanderern auch nicht das deutsche Grundgesetz in die Hand drücken. Es genügt, wenn wir sie gleich nach ihrer Ankunft mit Nachdruck auf ein paar unverzichtbare Regeln aufmerksam machen. Auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das heißt zum Beispiel, dass ein Vater seine Tochter nicht nach Belieben verheiraten darf. Auf den Umstand, dass Staat und Kirche bei uns getrennt sind, die Scharia also nicht über dem deutschen Gesetz steht. Auf die Tatsache, dass Juden und Homosexuelle Menschen sind wie andere auch, kurz: Es gelten die universellen Menschenrechte.

Wie sollte es denn jetzt weitergehen?

Ich wünsche mir, dass sich der gute Anfang in der Flüchtlingskrise, die sogenannte Willkommenskultur, mit Realismus verbindet und eine Form findet, die verlängerbar ist.

– Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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