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Nie um eine schlagkräftige Metapher verlegen: Der Philosoph Peter Sloterdijk,66.

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Peter Sloterdijk und „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“: Der elastische Konservative

Philosoph Peter Sloterdijk zieht in seinem neusten Werk „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ Lehren aus 2500 Jahren Kulturgeschichte. Und versucht auch eine Selbstkorrektur.

Die Stimmung von Peter Sloterdijk als seismografischen Ausdruck der Weltlage zu deuten, wäre gewiss allzu kühn. Dennoch liegt der Gedanke nahe, dass es schlimm um uns stehen muss, wenn die globale Wirtschaftskrise nun auch einem bekennenden Verfechter aufgehellter Stimmungen die Laune verdorben hat. „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ ist das bisher pessimistischste Werk des Philosophen. Das mag bei einem strategischen Optimisten nicht viel heißen und kann wie der Weltlage dem Alter geschuldet sein. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der 1947 geborene Rektor der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe nach Argumenten für eine Geisteshaltung sucht, die er in seinem neuen Buch im Zusammenhang der wenigen seit Jahrtausenden existierenden Kulturen „elastischen Konservativismus“ nennt.

Was sich wie ein Erziehungsratgeber anhört, den man gern der Nachbarsfamilie mit den ungezogenen Gören in die Hand drücken würde, ist alles andere als das. Es ist ein Ritt durch rund 2500 Jahre Kulturgeschichte, die Sloterdijk nach Indizien durchpflügt, wo sich das, was er den „Hiatus“ nennt – einen immer wieder geschehenden Bruch mit der Tradition, den er als Fehler im „Kopiervorgang“ zwischen den Generationen beschreibt–, zugetragen haben könnte oder angedeutet hat.

Es geht um so heikle Begriffe wie Abstammung, Herkunft, Erbe, Filiation. Sloterdijk will sie nobilitieren, ohne den Weg direkter Konfrontation zu gehen. In seinen feuilletonistischen Beiträgen vermeidet er ihn nie. Hier aber zieht er es vor, sich auf Schleichwegen zu nähern. Das gibt seinem Buch eine schwer zu durchschauende Stoßrichtung, die man erst bei wiederholter Lektüre erkennt. Und es führt leider auch dazu, dass man eine Menge Spiegelfechtereien überstehen muss, bis man prüfen kann, was an seinen Argumenten tatsächlich dran ist.

Exegese der Erbsünde

So beginnt er mit einer langen Exegese des christlichen Konzepts der „Erbsünde“ von Paulus bis Augustinus, um das Ziel seines Projekts als „nichttheologische Neubeschreibung menschlicher Erbverlegenheiten“ zu offenbaren. Dass Erbschaften von der Antike an stets auch juristische Angelegenheiten waren, wird zumindest an dieser Stelle unterschlagen, um mit großer Geste ein Projekt zu platzieren, das sich ganz ohne Anstrengung „nicht-theologisch“ ausdrücken ließe.

Der eigentliche Grund aber, warum es hierzulande ein höchst prekäres Unterfangen ist, Begriffe wie Abstammung und Herkunft neu zu überdenken, deren Missbrauch durch die NS-Ideologie, wird dagegen eher beiläufig beschrieben. Hitler und seine Parteistrategen werden eingegliedert in eine Kette von „Befreier-Despoten“, die von Lenin, Mussolini, Stalin, Mao Tse-tung bis zu Peron, Nasser, Pol Pot, Kabila, Duvalier, Idi Amin, Saddam Hussein, Gaddafi, Ben Ali reicht. Sie und viele andere sind in Sloterdijks Augen „Charismokraten“, die den Eindruck erweckt haben, „als wäre die politische Moderne ein theaterwissenschaftliches Institut gewesen, das fortwährend neue Jahrgänge hochbegabter Katastrophen-Macher hervorbrachte.“ Arbeit am Begriff sieht anders aus.

Der ständige "Sturz nach vorn"

Im Gegensatz dazu leuchtet seine Gegenwartsdiagnose ein. Die in der Neuzeit begonnene und in der Moderne vollendete Freisetzung des Individuums, das fortan in ständigem „Sturz nach vorn“ (eine Nietzsche zu verdankende Formulierung) durchs Leben taumelt und je heftiger um sich schlägt, desto labiler seine Lage wird, ist in der Tat eine furchterregende Entwicklung. Sie wird durch die Kompensationsversuche einer Politik, die sich als Konfliktlösungssimulator geriert und dabei weitere Schräglagen erzeugt, nicht besser. Das von allen Hemmungen befreite, aus allen Bindungen herauskatapultierte Individuum und ein Staatswesen, das sich in illegitimer Weise mit dem Bankenwesen eingelassen hat und nur noch als „Schuldenumwälzanlage“ (Gabor Steingart) funktioniert, sind die beiden Feindbilder, gegen die Sloterdijk lohnende Gefechte führt.

Was Peter Sloterdijk als „zivilisationsdynamischen Hauptsatz“ der Gegenwart formuliert und durch 25 zwischen Tragik und Komik schwankende Folgesätze ergänzt, ist von diagnostischer Prägnanz: „Im Weltprozeß nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.“ Das führt zu einer explosiven Vermehrung von Optionen, Ambitionen, Wünschen, Ausnahmen, Reisevorhaben, Krediten, Täuschungen, einklagbaren Rechten und Kunstwerken; zu erotischem Begehren ohne Erfüllung, zur Neuentdeckung von Krankheiten, für die es keine Heilung gibt, zu mehr Kandidaten auf Prominenz als die Aufmerksamkeit fassen kann, und vor allem zu immer mehr Problemen, deren Lösung auf kommende Generationen vertagt wird. Die Sorge, dass aus den heiteren Erben großer Vermögen bald Erben von Schulden und Altlasten werden, ist fürwahr ein guter Grund, über die Bedeutung von Erbschaften neu nachzudenken.

Warum wendet Sloterdijk seinen Blick ständig zurück?

Peter Sloterdijk - hier auf einem Wandbehang "vor der heiligen Inquisition des Trivialgeschmacks".
Peter Sloterdijk - hier auf einem Wandbehang "vor der heiligen Inquisition des Trivialgeschmacks".

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Doch warum wendet Sloterdijk seinen Blick ständig zurück? Muss man wirklich erst begriffen haben, dass Jesus von Nazareth, der „Sohn aller Söhne“, aufgewachsen ohne „realen Vater“, aber ausgestattet mit vermeintlich direkter Verbindung zu Gott als „überhöhtem Vater“, das „schrecklichste Kind der Weltgeschichte“ genannt werden kann, weil er sich dem Zeugen eigener Kinder verweigerte und damit eine fatale Tradition stiftete, um die Bequemlichkeit heutiger Männer auszuleuchten, die aus Karriere- und Konsumgründen auf Kinder verzichten oder zu desinteressierten Vätern werden, die sich der Aufgabe der „Transmission“, wie Sloterdijk die Weitergabe kultureller Prägungen nennt, verweigern?

Auch in diesem Buch gibt es schlagkräftige Metaphern, etwa in der Deutung von Kafkas „Brief an den Vater“ als „Hiroshima des geneaologischen Intervalls“. Es gibt zahlreiche schlüssig erzählte historische Episoden, etwa Napoleons Krönung zum Kaiser, der sich die Krone selbst aufs Haupt setzt, und der bis zum heutigen Tag mehr oder weniger verrückte Nachahmer findet. Es gibt galante Erzählungen über Madame Pompadour, grausame Innenansichten der Stalin’schen Säuberungen, kluge Umdeutungen antiker Mythen, böse Seitenhiebe gegen die Psychoanalyse, erhellende Exegesen von Shakespeare-Tragödien und des deutschen Idealismus, bewegliche Anwendungen von Begriffen wie „Bastardisierung“ und „Hybridisierung“ und äußerst pointierte Formulierungen über den Gegenwartsmenschen als „Endverbraucher von Chancen, Gütern und Beziehungen“, der in die „Daseinsweise von herkunftsschwachen und nachkommenlosen Selbstverzehrern“ eingewilligt hat.

Der Versuch einer Selbstkorrektur

Was diesem Buch aber fehlt, ist jene „Vertikalspannung“, die Sloterdijk in seiner Selbstoptimierungs-Fibel „Du musst dein Leben ändern“ eindrucksvoll vorgeführt hat. Das ist vermutlich kein Zufall. „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ ist nicht nur der Versuch, aus der Geschichte zu lernen. Eines der sechs Großkapitel ist mit „Leçons d’histoire“ überschrieben.

Dieses Buch ist auch der Versuch einer Selbstkorrektur. Focaults „Sorge um sich“, 2009 noch zustimmend zitiert, wird nun für die Verkennung kritisiert, sie habe sich in der Antike immer auf ein Kollektiv bezogen. Dass die Neuzeit die „Logik der Reproduktion“ durch eine „Ethik der Optimierung“ ersetzt habe, ist ein weiteres Indiz für diese Korrektur. Und nicht zuletzt der Angriff auf den „scheinharmlosen Begriff der ‚bürgerlichen Gesellschaft'“ und das überhaupt nicht harmlose „Leitwort ,Revolution’“. Beide erklärt Sloterdijk für „Entsicherungen“ verantwortlich, die den ethischen Imperativ „Du sollst nicht“ in den „enthemmenden Imperativ „Du musst“ verwandelt haben – also genau in jenen Imperativ, der seinem letzten großen Werk den Titel gab.

Der das Buch beschließende Appell, jeder wäre gut beraten, sich an der „Neufassung des Prinzips Hoffnung“ zu beteiligen und sich in der „verlernten Kunst des Dauerns“ zu üben, wirkt matt. Es sieht so aus, als habe Peter Sloterdijk seine Energien für die Beschreibung einer Krankheit aufgebraucht, deren Heilung eigentlich sein Vorsatz war. Wie der „Sinn für Kohärenz und Nachfolge“ mehr Terrain gewinnen könnte, leuchtet zwar in einzelnen Schnipseln auf. Sie sind aber so diffus in die Kapitel eingestreut, dass sie sich nicht zu einer konsistenten Anschauung formen lassen. Man darf gespannt sein, wie er sein Feld bewirtschaften wird, wenn er tatsächlich damit beginnen sollte, nicht mehr mit hoher Energie neue Ideen herauszuschleudern, sondern sie geruhsam in Form zu bringen.

Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 489 Seiten, 26,95 €.

Meike Feßmann

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