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Zum Raum wird hier die Zeit. Hans Scharouns Berliner Philharmonie. Ich kenne keinen besseren Konzertsaal, sagt Wolfgang Becker.

© Monika Rittershaus

Philharmonie: Block A, Reihe sieben

Mein klassisches Jahr. Der Regisseur Wolfgang Becker liefert einen passionierten Rückblick auf philharmonische Abende.

Mein Lieblingsplatz in der Philharmonie ist im Block A, möglichst Mitte, siebte oder achte Reihe. Früher, als Aufnahmen nur mit einem einzigen Stereo-Mikro gemacht wurden, hat man es genau dort platziert. Schon allein wegen des fantastischen Gebäudes von Scharoun gehe ich gern in die Philharmonie. Ich kenne keinen besseren Konzertsaal, architektonisch wie klanglich. Und ich freue mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich dort sein kann. Es ist einfach etwas anderes als zum Beispiel das Concertgebouw in Amsterdam, ein klassischer, leicht vermuffter Musiktempel, wo man sich in den vorderen Reihen den Hals verrenkt, so hoch ist die Bühne. Oder die Royal Albert Hall in London, wo ich im September ein Prom-Konzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester gehört habe. Sie hat einen schönen Klang, erinnert aber fast schon an ein Fußballstadion.

Seit Ende der siebziger Jahre gehe ich in die Philharmonie. Karajan habe ich noch erlebt. Und das legendäre BerlinKonzert von Wladimir Horowitz 1986. Damals hatte ich kaum Geld und saß im H- oder K-Block hinter dem Orchester. Ich hebe alle Programmhefte auf, manchmal blättere ich darin. Interessant, woran man sich erinnert und woran nicht.

Dieses Jahr war ich gut zwei Dutzend Mal im Konzert, mein Hauptkriterium bei der Auswahl ist überwiegend das Programm: Fin de Siècle, Klassik der Moderne, das 20. Jahrhundert, das ist meine Musik. Mahler, Schostakowitsch, Strawinsky, Ravel, Prokofjew, Bartók, gerne auch Benjamin Britten oder Arvo Pärt. Ein reines Mozart-Programm fixt mich nicht so an, ich mag es, wenn großes Orchester aufgefahren wird. Wobei ich kürzlich Philippe Jarrousky mit dem Concerto Köln erlebt habe, 14 Musiker, die im Stehen spielten und mit ihrem Ensembleklang die Philharmonie füllten. Wunderbar!

Mein liebstes Konzert 2010 war Mahlers 2. Sinfonie mit den Philharmonikern, dirigiert von Simon Rattle. Das zweitliebste war Brahms’ Zweite unter Barenboim, ebenfalls mit den Philharmonikern. Ich habe die Entwicklung des Orchesters seit Rattles Amtsantritt nicht kontinuierlich verfolgen können, aber die Kritik, der berühmte Brahms-Ton sei verloren gegangen, kann ich nicht teilen. Brahms klang so großartig wie früher, obwohl ja längst eine jüngere Musikergeneration auf dem Podium sitzt.

Auf Platz drei liegt Mariss Jansons mit dem Concertgebouw und Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ sowie Strawinskys „Feuervogel“. Dazu hatte ich 20 Freunde eingeladen. Die Begeisterung war einhellig, obwohl es für einige das erste klassische Konzert überhaupt war. Zur Einstimmung haben wir uns vorab im X-Filme-Kino Kubricks „Shining“ angesehen, der Bartóks „Musik ...“ in einer Karajan-Einspielung verwendet. Der schwierigste Teil bestand darin, eine 35-Millimeter-Kopie im Original aufzutreiben.

Nicht leicht zu sagen, was einen Abend besonders macht. Mahlers 2. Sinfonie wirkt unkaputtbar, sie hat eine unglaubliche Wucht. Man fühlt sich klein mit seinem eigenen Kram. Allein die Geschwindigkeit macht mich Staunen, mit der Mahler quasi nebenbei komponiert hat, neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Intendant und Dirigent. Und dann gibt es die Magie des Abends. Plötzlich ist das Publikum hoch konzentriert, keiner hustet oder raschelt, und nach dem Schlussakkord herrscht noch für einen Moment Stille, bevor einer dieser idiotischen Bravo-Brüller die Stimmung zerstört. Das gleiche Konzert am Vorabend soll nicht so umwerfend gewesen sein, wie mir einer der Musiker später erzählte.

Der Dirigent Sergiu Celibidache, über den ich 1992 einen Dokumentarfilm gedreht habe, war ja ein reiner Live-Musiker. Auch er erzählte, dass die Magie sich nicht herstellen lässt. Sie stellt sich ein – oder eben nicht. Aber wenn sie da ist, erleben sie alle gleichermaßen, der Dirigent, die Musiker und das Publikum.

Zum Glück bestehen die Konzertprogramme der Philharmoniker längst nicht mehr nur aus Brahms, Richard Strauss und Beethoven. Manchmal habe ich den Verdacht, dass Strauss vor allem deshalb so häufig gespielt wird, weil er den Musizierenden Spaß macht, mehr als den Zuhörenden. Schon unter Abbado hat sich ihr Repertoire vergrößert, seit Rattle wird auch viel Zeitgenössisches gespielt. Dass ich mich auf einen Klassiker freue, aber dann von einem unbekannten Stück oder einer Uraufführung überrascht werde, mag ich sehr. Bei „Stele für großes Orchester“ von György Kurtág war das so, im Januar unter Bernhard Haitink. Oder bei Sofia Gubaidulinas „Glorious Percussion“, vor Schostakowitschs Zwölfter beim Musikfest 2009 unter Gustavo Dudamel. Solche Entdeckungen begeistern mich.

Berlin hat mindestens drei fantastische Orchester, die Philharmoniker, die Staatskapelle und das DSO. Da kommt höchstens noch London mit. Und die Philharmoniker sind eines der besten Orchester der Welt, am Ende einer Saison haben mich ihre Konzerte am meisten erstaunt und bewegt. Aber wenn ich an den Mahler-Zyklus mit Barenboim und Boulez von 2007 zurückdenke, steht die Staatskapelle dem kaum nach. Das DSO überzeugt mich vor allem wegen der Programmvielfalt und dem Mut zum Zeitgenössischen. Ihrem letzten Chefdirigenten Ingo Metzmacher verdanken wir es auch, dass vergessene oder durch den Nationalsozialismus in Misskredit geratene Werke wieder aufgeführt wurden.

Schade, dass Metzmacher weg ist! Er hat ungewöhnliche Programme zusammengestellt, das Orchester nach vorne gebracht und ein anderes Publikum angelockt. Ich bin gern zu seinen Casual Concerts gegangen. Die kosteten nicht viel, ich konnte viele Freunde mitbringen und man lernte was. Es war wie bei Lenny Bernsteins Young People’s Concerts, nur halt für Erwachsene. Das fehlt mir. Metzmachers Nachfolger, Tugan Sokhiev, habe ich jetzt mit Strawinskys „Sacre“ gehört, sehr routiniert, sehr effektvoll, aber vom Hocker hat er mich nicht gerissen.

Meine Lieblingsdirigenten? Auf Platte ist Georg Solti immer verlässlich, auch Bruno Walter und Bernstein. Charles Dutoit mag ich, oder Antal Dorati, für Strawinsky zum Beispiel. Bei der Barockmusik sind Christopher Hogwood oder Trevor Pinnock hervorragend, überhaupt gefällt mir die Barockmusik in der Tradition der englischen Aufführungspraxis besser als in der deutschen. Wie viele andere auch habe ich bei Bach und Händel mit Karl Richter angefangen, sie aber später mit den Engländern wiederentdeckt, etwa mit Hogwoods Academy of Ancient Music. Aber Berlin ist nicht gerade die Hauptstadt der Alten Musik.

Und es ist unfair, die Großen auf Platte mit jungen Dirigenten live zu vergleichen. Live und Aufnahme, das sind zwei Welten. Ich habe rund 8000 Schallplatten, downloade so gut wie nichts, sondern kaufe in Secondhand-Läden altes Vinyl. Das ist oft von höchster Qualität für wenig Geld. Inzwischen besitze ich ein großes LP-Archiv, Klassik, Oper, auch Soundtracks, Jazz – und ich sammle alles von den Beatles. Aber ich bin kein High-Ender mit Röhrenverstärker für 20 000 Euro. Mein Ohrenarzt sagt immer, alles über 13000 Hertz hörst du sowieso nicht mehr. Also habe ich gute Boxen und höre nicht mit Kopfhörer.

Wolfgang Becker.
Wolfgang Becker.

© ddp

Ein Fixpunkt im Berliner Musikkalender ist natürlich das Musikfest. Es ist fantastisch, zu erschwinglichen Preisen große Orchester der Welt zu hören und verschiedene Ensembles, Dirigenten und Klänge rund um ein Œuvre oder ein Thema im direkten Vergleich zu erleben. Das möchte ich trotz all der hochkarätigen Orchester in der Stadt nicht missen. Wobei ich dieses Jahr nicht so oft da war wie 2009: Schostakowitsch lag mir mehr als Berio und Boulez. Mehrere „Notations“ hintereinander zu hören, ist anstrengend. Gut, als ich jung war, habe ich Strawinsky als kakophonisch empfunden, heute ist er meinen Ohren vertraut. Vielleicht bin ich auch mit Boulez in einigen Jahren so weit.

An Silvester gehe ich nicht ins Konzert, ich bin kein großer Freund von Beethovens Neunter. Immer wenn etwas Wichtiges in der deutschen Geschichte passiert, wird die Neunte rausgeholt. Warum eigentlich? Zum Jahresausklang werde ich noch Strawinkys „Rake’s Progress“ in der Staatsoper im Schiller Theater hören, und für 2011 habe ich schon Karten für den 22. Februar, zwei Tage nach der Berlinale: Schostakowitschs Siebte mit der Staatskapelle und Ingo Metzmacher. Auch ein Abend mit Barenboim und Tschaikowsky ist bereits gebucht.

Wenn ich mir was wünschen darf: Bitte mehr Prokofjew, der ist zuletzt ein wenig untergegangen. Prokofjew ist 1953 gestorben, übrigens am selben Tag wie Stalin, spätestens im Jubiläumsjahr 2013 ist er dran. Aber vielleicht geht auch 2011 schon was, denn sein Geburtsjahr ist 1891. Auch Penderecki könnte öfter gespielt werden. Ich habe gerade einige polnische Platten aus der Zeit des Sozialismus gekauft, die der Komponist selbst dirigiert hat; in den Plattenläden ist das regelrechte Bückware. Seit Jahren lauere ich darauf, dass sein Erstes Violinkonzert aufgeführt wird. Solche Werke kann man nicht nur auf Konserve hören, sie gehören in den Konzertsaal.

Aufgezeichnet von Christiane Peitz

Der Filmemacher Wolfgang Becker, 56, („Good Bye, Lenin!“) lebt in Berlin. Er arbeitet zurzeit an einer Kinoadaption des Romans „Ich und Kaminski“ von Daniel Kehlmann.

Wolfgang Becker

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