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Gianandrea Noseda

© Ramella & Giannese

Philharmoniker mit Gianandrea Noseda: Bis die Lackschuhe wippen

Gianandrea Noseda stand zum ersten Mal am Pult bei den Berliner Philharmonikern. Es gab Strauss und Tschaikowsky. Und die Musiker spielten dem Newcomer mit unerwarteter Leidenschaft und Präzision zu.

Am 26. Mai 1945 gaben die Berliner Philharmoniker im Steglitzer Titania-Palast ihr erstes Nachkriegskonzert. Wenn sie jetzt, 70 Jahre später, im Zeichen des Erinnerns drei ihrer aktuellen Konzerte diesem Ereignis widmen, so zitieren sie auch den Schatten, der sich über die Aufbruchstimmung gelegt hat. Es dirigierte damals Leo Borchard, und nach dem umjubelten Konzert beauftragte ihn der Magistrat, das Orchester zu leiten. Dann brach das Unglück herein: Am 23. August wurde Borchard infolge eines fatalen Missverständnisses von einem amerikanischen Soldaten erschossen.

„Dirigent, Kosmopolit, Widerstandskämpfer“ titelt Helge Grünewald seine mit großer Sorgfalt und Fantasie arrangierte Ausstellung über das Leben Borchards, die im Foyer die Besucher der Philharmonie in ihren Bann schlägt. Darin ist auch zu erfahren, dass Tschaikowskys Vierte ein Schlüsselwerk des Dirigenten war und in jenem Konzert als „Krönung des Abends“ empfunden wurde.

Am Pult steht nun zum ersten Mal bei den Philharmonikern der Italiener Gianandrea Noseda, geboren 1964 in der Musikstadt Mailand. Mit welcher Leidenschaft und Präzision die Musiker dem Newcomer zuspielen – das tun sie bei Debütanten nicht immer. Zuerst sucht Noseda aus einer Partita von Goffredo Petrassi Funken zu schlagen, und die philharmonischen Lackschuhe wippen.

Das Publikum ist elektrisiert

Nach der Pause dirigiert er die vierte Symphonie von Tschaikowsky, betont den Fanfarenklang des „Schicksals“, lässt die Solobläser herrlich singen und wird vom Orchester im Scherzo mit feinstem Pizzikato belohnt. Achtsamkeit und Emphase zeichnen diese unpathetische Interpretation aus, die sich im Finale zum lärmenden Feuerwerk bekennt. Da mischen sich sogar ein paar Buhrufe in die Begeisterung, das Publikum ist elektrisiert.

Beim „Zauberkreis der Nacht“ fasziniert die Interpretation: Großes Orchester und Sopran neigen in den meisten Aufführungen der „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss dazu, in Konkurrenz zu verfallen und einander ins Laute zu drücken. Hier aber gelingt die wundersame Harmonie, dass der Klang blüht und die Sängerin Camilla Nylund ihre goldenen Linien dennoch frei entfalten kann. Wie der Dirigent das macht? Prächtig entfaltet Noseda beim vierten Lied „Im Abendrot“ mit den Philharmonikern die Introduktion, um dann den feinen Gesang Nylunds wie das Eichendorff-Gedicht so behutsam wie konzentriert zu begleiten: „Dass wir uns nicht verirren/In dieser Einsamkeit.“

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