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Unterkühlt. Marguerite (Krassimira Stoyanova) mit Faust (Teodor Ilicai) und Mephisto (Ildebrando D’Arcangelo).

© Marcus Lieberenz

Philipp Stölzl inszeniert "Faust": Faust mit Autoscooter und französischem Gretchen

Philipp Stölzl steckt Charles Gounods „Faust“-Vertonung an der Deutschen Oper ins Frauengefängnis. Faust und Mephisto tragen rosa Paillettenanzüge.

Zu den prägenden Kulturerfahrungen des jungen Philipp Stölzl gehörten einst die „Tim und Struppi“-Comics. Als Teenager lernte der 1967 geborene Regisseur durch Band 21 bereits eine Oper kennen, die er jetzt in Berlin inszeniert hat: Charles Gounods 1859 in Paris uraufgeführte Vertonung des Goetheschen „Faust“. In „Les Bijoux da la Castafiore“ nistet sich im Schlösschen des Tim-Intimus Kapitän Haddock eine Diva ein, deren Paraderolle just das französische Gretchen ist. Angetan mit einer blonden Zopfperücke singt sie mit Vorliebe die berühmte Juwelenarie. Als die Geschmeide verschwinden, wird schnell ein Roma-Mädchen verdächtigt. Doch als Räuber entpuppt sich am Ende – noch eine Opernanspielung, diesmal auf Rossini! – „Die diebische Elster“.

Die erzählerische Leichtfüßigkeit, mit der „Tim und Struppi“-Erfinder in den Fünfzigern zu Werke ging, fehlt Philipp Stölzl im Berliner „Faust“ völlig. Immerhin beschwört die Bühnenoptik die Ästhetik der Fifties: Es gibt Leuchtreklamen und Autoscooter, sowohl Faust als auch Mephisto treten in rosafarbenen Paillettenanzügen auf wie Möchtegern-Elvisse. Zu Petticoats und Cocktailkleidern, Baseballjacken und Ringelpullis trägt der Chor pausbäckige Kindergesicht-Masken. Doch die Stimmung bleibt trist und düster. Denn zusammen mit Heike Vollmer hat der Regisseur ein Gefängnis im Stil des architektonischen Brutalismus entworfen: Ein riesiges, fensterloses Halbrund aus Waschbeton ragt im Hintergrund empor, die Mitte der Szene dominiert ein Turm, ebenfalls ausgeführt in demselben grau-rauen Material.

Damit ist schon mal ein Großteil der Spielfläche blockiert, allein mittels der Drehscheibe lässt sich hier szenisch noch etwas bewegen. Der abgewrackte Wohnwagen, in dem Gretchen haust, wird so hereingefahren, später auch der Hochsicherheitstrakt, in dem die Kindsmörderin auf ihre Hinrichtung wartet. Vor allem aber tauchen aus dem Dunkel immer wieder nachgestellte Genreszenen auf. Solche „lebenden Bilder“ arrangierte man zu Gounods Zeiten gerne im heimischen Salon. Im Kontext einer modernen Theateraufführung allerdings blieben sie optisch totes Material.

Marco Armiliato waltet umsichtig im Orchestergraben

Bewegungsminimiert schleppt sich die Handlung bis zu Pause voran, die matten Farben, die schummrige Beleuchtung korrespondieren mit der fußfaulen Personenführung. Viel Zeit bleibt da, um der Musik zuzuhören. Marco Armiliato waltet umsichtig im Orchestergraben und reüssiert auch weitgehend in seinem Bemühen, Gounods zierliche, melodieselige Partitur in der rechten Balance zwischen Lebendigkeit und Eleganz zu halten. Französisch-schlank klingen die Holzbläser, präzise und durchsichtig die Streicher – und doch fehlt etwas, genau wie oben auf der Bühne: Leidenschaft, eine innere Beteiligung der Ausführenden, die den Zuhörer ins Geschehen hineinziehen könnte.

Neutral bleibt der Blick auf die Ereignisse, auch weil Ildebrando D’Arcangelo kein auratischer Mephisto ist. Er wirkt nicht verführerisch genug und singt vor allem zu pauschal, dröhnend oft, ohne die Freude daran, mit der Sprache zu spielen, raffinierte Artikulation als teuflisches Gestaltungsmittel einzusetzen. Teodor Illincai, sein Opfer, ist ein angenehm anzusehender Faust, aber ebenfalls kein Spezialist der französischen Gesangstradition, nach der lyrische Tenöre die Spitzentöne beispielsweise mit der Kopfstimme kunstvoll-künstlich veredeln. Illincai schmettert sie aus voller Brust, mühelos zwar, aber undifferenziert.

Buhs und Bravos halten sich beim Schlussapplaus die Waage

Unterkühlt. Marguerite (Krassimira Stoyanova) mit Faust (Teodor Ilicai) und Mephisto (Ildebrando D’Arcangelo).
Unterkühlt. Marguerite (Krassimira Stoyanova) mit Faust (Teodor Ilicai) und Mephisto (Ildebrando D’Arcangelo).

© Marcus Lieberenz

Unmittelbar anzurühren vermag dagegen Krassimira Stoyanovas Gretchen. Die Bulgarin ist eine Meisterin virtuoser Natürlichkeit, ihr warm grundierter, reifer Sopran mit der klangfarbenreichen Mittellage und der freien Höhe macht diese Marguerite sofort sehr menschlich. Schade nur, dass die sonst handwerklich so souveräne Kostümbildnerin Ursula Kudrna ausgerechnet die Protagonistin in eine Kittelkombination steckt, die sie halb nach Kellnerin aussehen lässt, halb nach Krankenschwester, auf jeden Fall aber vollkommen unsexy. Unerklärlich bleibt diese grauenhafte Gewandung vor allem auch, weil Philipp Stölzl szenisch erschöpfend ausbreitet, dass Fausts erotische Fantasien ganz auf Schulmädchen mit Faltenröckchen und weißen Kniestrümpfen zielen.

Nach der Pause immerhin gewinnt die Produktion etwas an atmosphärischer Dichte, vor allem dank Stephanie Lauricella und Markus Brück. Die Stipendiatin der Opera Foundation New York stürzt sich mit überzeugend jugendlicher Emphase in die Neben- und Hosenrolle des minderjährigen Gretchen-Verehrers Siebel. Er, der Zigarettenverkäufer im Ganzkörper- Hasenkostüm, steht als einziger noch zu ihr, als die ledige Schwangere von der Maskenträger- Gesellschaft verstoßen wird. Einer der seltenen Gänsehautmomente gelingt, wenn er vor Marguerite niederkniet, aus seinem Bauchladen ein Trauring-Kästchen nestelt, von ihr abgewiesen wird und der entschwindenden Geliebten dann fassungslos nachschaut. Mit hängenden Schultern steht er im Schneegestöber, das im gesamten zweiten Teil nicht aufhören wird.

Ronnita Miller ist als Marthe Schwerdtlein in jeder Hinsicht eine Wucht

Markus Brück wiederum erweist sich einmal mehr als wichtigste Stütze des hauseigenen Ensembles. Schauspielerisch so stark wie sonst keiner an diesem Premierenfreitag, platzt er geradezu vor Machomännlichkeit, serviert als soldatischer Gretchen-Bruder Valentin seine Wunschkonzertarie „Avant de quitter ces lieux“ mit allerprächtigstem Baritonglanz und schleudert schließlich im finalen Verröcheln seine gotteslästerlichen Flüche so hasserfüllt heraus, dass es einem durch Mark und Bein geht.

Ronnita Miller ist als Marthe Schwerdtlein in jeder Hinsicht eine Wucht und der einzige (selbst)ironische Lichtblick des Abends, der von Thomas Richter vorbereitete Chor singt auf gewohnt hohem Niveau. Kurz vor dem Tod durch die Giftspritze nutzt Philipp Stölzl geschickt ein paar musikalische Rudimente der gestrichenen Walpurgisnacht-Szene, um eine kitschige Trauungszeremonie zu untermalen, die natürlich genauso eine Traumvision Marguerites ist wie die gesamte Inszenierung.

Als der Regisseur am Ende aus der Seitengasse tritt, schlägt das Applausometer weit nach oben aus: Fans und Gegner versuchen, sich gegenseitig zu übertönen, wobei es gefühlt genauso viele Bravos wie Buhs gibt. Vor allem aber schwappt aus dem Saal eine Welle der Emotionalität gen Bühne, wie man sie sich den ganzen Abend über in umgekehrter Richtung gewünscht hätte.

Wieder am 24., 27. und 30. Juni sowie 2. und 5. Juli.

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