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Philosoph Michail Ryklin: "Keiner ist mehr sicher“

Der Moskauer Philosoph Michail Ryklin über das System Putin und den Mord an Anna Politkowskaja.

Herr Ryklin, am vergangenen Samstag wurde die regierungskritische Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau erschossen. Was bedeutet dieser Mord für Russland?

Diese Straftat ist ein Fanal, ein hochsymbolischer Akt. Bis dieser Mord geschah, hätte niemand gedacht, dass man Anna Politkowskaja anrühren würde, denn wir, die Kritiker der Regierung, sahen in ihr die Galionsfigur der unabhängigen Publizistik in Russland, eine Frau, die vom Westen hoch geschätzt und mit vielen Preisen geehrt wurde.

Sie schien geschützt.

Ja. Wir nahmen an, dass Wladimir Putin und sein System Wert auf ein demokratisches Aushängeschild wie Politkowskaja legen und dass ihre Zeitung, die unabhängige „Nowaja Gaseta“, genau wie etwa der Sender „Moskauer Echo“ für die Elite im Kreml demokratische Schaufenster darstellen, auf die sie nicht verzichten wollen – oder können. Auch Blätter mit geringer Auflage wie das regierungskritische Magazin des Schachweltmeisters Kasparow schienen ein Garant dafür, dass wenigstens diese Nische bleibt. Jetzt aber findet ein Paradigmenwechsel statt.

Worin besteht der?

Bisher glaubten wir kritischen Geister wenigstens an ein zivilisatorisches Minimum, einen einigermaßen begehbaren Boden der Gesellschaft. Jetzt lautet die Botschaft: Niemand von euch ist mehr sicher. Auch Prominenz, westliche Freunde, Ansehen, Auszeichnungen sind kein Schutzschild mehr gegen die gewalttätige Repression der Meinungsfreiheit. Wenn jemand wie Politkowskaja auf derart offene, freche Weise ermordet werden kann, so bestialisch und am helllichten Tag, dann kann jeder von uns dran sein. Das ist ein Schock. Zumal wir wissen, dass die meisten politischen Morde im heutigen Russland nie aufgeklärt werden.

Was machte Anna Politkowskaja in den Augen des Regimes so gefährlich – Putin nannte sie am Dienstag in Dresden eine Journalistin mit „extremen Ansichten“? Dass sie Namen nannte von korrupten Funktionären oder Folterern im Tschetschenienkrieg? Sind Journalisten sicher, solange sie keine Namen nennen?

Das allein genügt nicht. „Putin“ ist ja nur das Synonym für ein ganzes System. Zum russischen Konzept der vertikalen Macht, an deren Spitze Putin steht, gehören Armee, Justiz, die Duma, die staatlichen Medien, Geheimdienst, Polizei – und auch die orthodoxe Kirche. Obwohl in der russischen Verfassung der Säkularismus verankert ist, also die klare Trennung von Staat und Kirche, hält sich der Kreml keineswegs daran. An Ostern wie Weihnachten erhalten Putin und seine Funktionäre auf einer Art VIP-Lounge der Kirche den Segen vom Patriarchen. Der sagt, sie mögen „Russland retten“, und wer sich mit der „Staatsreligion“ anlegt, muss ebenfalls mit Repressalien rechnen.

In Ihrem Buch „Mit dem Recht des Stärkeren“ über die „russische Kultur in Zeiten der gelenkten Demokratie“ beschreiben Sie solch einen Fall, den Sie selbst erlebt haben und als Symptom für die Gesellschaft analysieren.

Es geht um die vandalistischen Ausschreitungen gegen eine Kunstausstellung im Moskauer Sacharow-Zentrum 2003, als eine Gruppe extrem nationalistischer Personen die Ausstellung mit dem Titel „Achtung Religion!“ verwüstete, deren Exponate spielerisch-kritisch mit religiösen Symbolen umgingen. Zu den Künstlern gehörte auch meine Frau, Anna Altschuk. Fünf Monate verbrachten wir praktisch dauernd im Gericht. Zuerst wurde ein Prozess gegen die Täter angestrengt, aber die Staatsanwaltschaft sprach sie unter einem Vorwand frei. Danach begann ein Prozess gegen die Attackierten, gegen den Leiter des Sacharow-Zentrums, wegen „Schürens von nationalem und religiösem Zwist“. Auch den Künstlern drohten Gefängnisstrafen. Die Staatsduma erklärte gegenüber dem Generalstaatsanwalt, die Künstler hätten die Gefühle orthodoxer Gläubiger verletzt.

Was geschah dann im Gerichtssaal?

Wir wurden dort von einem nahezu analphabetischen Publikum angepöbelt und waren antisemitischen Beleidigungen ausgesetzt. Wir erhielten auch Morddrohungen. Als ich den Richter fragte, warum er ein solches Verhalten dulde, bekam ich zu hören: „Das Verhalten der Leute hier haben Sie doch provoziert!“ Für die Künstler setzte sich Amnesty International ein, auch mit einem persönlichen Appell an Putin. Mein Buch analysiert anhand dieses Falls das fatale Verdrängen der traumatischen Vergangenheit unter Stalin, die russische Xenophobie und Psychose – als eine in Russland weit verbreitete Haltung, das Realitätsprinzip zu negieren.

Ihr Buch handelt auch von dem Fall des Oligarchen Chodorkowski, dessen demokratische Ambitionen dem Kreml missfielen und der seit seinem Schauprozess in Sibirien inhaftiert ist.

Wo er nicht einsitzen dürfte, denn ein Gesetz verbietet es, dass Häftlinge weiter als dreihundert Kilometer vom Wohnort ihrer Familie ihre Strafe abbüßen. Aber das Gesetz wird missachtet. Der Fall Chodorkowski belegt, dass Privateigentum in Russland wenig zählt, sobald man bei den Mächtigen in Misskredit gerät. Chodorkowski hatte getan, was unter den Oligarchen Tabu ist: Er hatte sein Milliardenvermögen und das seiner Spitzenmanager öffentlich gemacht, da amerikanische Interessenten, die sich an Yukos beteiligen wollten, auf Transparenz pochten. Damit brach er ein ungeschriebenes Gesetz – und war raus aus der Gesellschaft.

„Deportiert“ nach Sibirien, wie unter Stalin. Wie erklären Sie sich die gesellschaftliche Regression in Russland?

Millionen Menschen sind seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ärmer geworden, gleichzeitig fehlt den Leuten jene imperiale Megalomanie, die in der Sowjetzeit wenigstens subjektiv für einige Mängel entschädigen konnte. Also sind die Leute – traumatisiert von einer unbewältigten Vergangenheit und schlecht informiert mangels freier Medien – auf der Suche nach Sündenböcken für ihre Lage. Nichts ist leichter, als sich einzureden: Schuld daran sind die Kaukasier, die Juden, die Asiaten. Auch vor den Georgiern, früher eins unserer beliebtesten Brüdervölker – Stalin stammte von dort –, macht diese Stimmung nicht Halt, wie die vergangenen Wochen gezeigt haben.

Putin verurteilt den Antisemitismus . . .

... mit Worten. Man muss auf seine Handlungen achten. Putin kam 1999 durch den ersten Tschetschenienkrieg an die Macht; seit er regiert, gibt es dort ununterbrochen Krieg. Indem er die elektronischen Medien komplett unter seine Kontrolle brachte, verhinderte er, dass die Mehrheit der Bevölkerung erfährt, was sich tatsächlich abspielt.

Oft hört man, Putin und seine „harte Hand“ seien sehr beliebt.

Kim Jong Il in Nordkorea ist auch sehr beliebt. Es ist einfach, beliebt zu sein, solange die Bevölkerung keine Wahl hat und kaum je ein anderes Gesicht zu sehen bekommt. Wäre er wirklich beliebt, hätte er es nicht nötig, die Medien zu kontrollieren, sondern könnte sich Rededuellen stellen und Gegenkandidaten anerkennen. Aber es gibt nur Putin und immer wieder Putin. Inzwischen wird offen und zynisch darüber spekuliert, wen er als seinen Nachfolger bestimmen könnte. Nicht die Wähler, sondern er. Insofern sind unsere Wahlen eine Farce. In einem Jahr wird das Parlament gewählt, in 18 Monaten der Präsident. Vorher musste noch ein Signal an die möglichen Kritiker und politischen Herausforderer gesendet werden. Dieses Signal war der Mord an Anna Politkowskaja.

Was erwarten Sie von westlichen Politikern?

Eine deutliche Sprache. Manchmal kommt es mir im Westen nahezu schizophren vor, dass die Presse hier offen und deutlich über Menschenrechtsverletzungen berichtet, während die Politiker Russland schönreden, so als läsen sie keine Zeitung. Gerhard Schröder zum Beispiel. Vor seiner Wahl zum Bundeskanzler hatte er die innige „Saunapolitik“ zwischen Kohl und Jelzin lautstark verurteilt, um als Kanzler dann aber Putin einen „lupenreinen Demokraten“ zu nennen und heute mit ihm Geschäfte zu machen. Ich finde es gut, dass Angela Merkel den Mord bei ihrem Dresdner Treffen mit Putin immerhin zum Thema gemacht und Ermittlungen gefordert hat.

Das Gespräch führte Caroline Fetscher.

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