zum Hauptinhalt

Kultur: Philosophie: Grenzen des Gastrechts

Was den Philosophen Jacques Derrida mit Theodor W. Adorno verbindet, lässt sich nur noch in einem imaginären Dialog klären.

Was den Philosophen Jacques Derrida mit Theodor W. Adorno verbindet, lässt sich nur noch in einem imaginären Dialog klären. "Ich habe einen großen Respekt für Adorno", sagt der 70-jährige Derrida, der heute in Frankfurt / Main den mit 100 000 Mark dotierten Theodor-W.-Adorno-Preis erhält. "Ich habe zwar keine Texte über ihn geschrieben, doch ich habe ihn oft in meinen Vorlesungen erwähnt." Trotzdem verhehlt Derrida nicht, dass er stets einem anderen, Adornos und Horkheimers Frankfurter Institut für Sozialforschung nahestehenden Denker mehr verbunden war, Walter Benjamin: weil der sich selber "in der Universität niemals wirklich zu Hause gefühlt" habe.

Adorno gründete die staatsunabhängige Forschungsstelle, die Benjamin noch 1938 als "deutsches Institut freier Forschung" verstand. Derrida errichtete zu Beginn der Mitterrand-Ära das "Collège Internationale de Philosophie", das er "als Ort der Provokation, der Experimentierfreude und des Forschungsanreizes" beschrieb. Adorno gehörte während der Adenauer-Zeit zu den kritischsten Intellektuellen. Ähnliche Verdienste messen die Kuratoriumsmitglieder Dirk Baecker, Bernhard Waldenfels, Durs Grünbein und Silvia Bovenschen der Philosophie Derridas bei. Zur Begründung der Preisverleihung nennen sie die Originalität und Reflexivität seines Denkens, mit Blick auf die Affinität beider Philosophen bemerken sie: "Derridas Werk ist wie das Adornos geprägt durch Widerstand gegenüber vorschnellen Vereindeutigungen und zwanghaften Versöhnungen." Und weiter: "Derridas experimentierende Beschäftigung mit Randzonen der Philosophie, seine Grenzüberschreitung zu den Künsten und seine Ästhetik, Psychoanalyse und Ethik verbindendes Denken."

Derrida versteht sich in der Tat als Grenzgänger der Philosophie. "Das Besondere der Philosophie", sagt er, "besteht darin, dass ihr kein Gebiet im voraus gegeben ist. Wenn es Philosophie gibt, so ist sie eine Weise des Fragens oder des Suchens, die sich nicht gleich zu Beginn in einem Gebiet des Wissens einschließen lässt. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, die einem bestimmten Gegenstandsfeld entspricht." Sie sei immer dazu aufgerufen, Gebietsgrenzen der Forschung zu überschreiten und "sich selbst über ihre eigenen Grenzen zu befragen. Sie kommt nicht umhin, ständig ihre Grenzen zu verschieben." Zugleich teilt Derrida mit Adorno fundamentale Errungenschaften der Aufklärung. Beide Philosophen sind sich einig, dass in einer demokratischen Gesellschaft das Respektieren von Differenzen unerlässlich ist. Werden die sprachlichen, kulturellen, sexuellen, politischen, religiösen und ethnischen Unterschiede nicht geachtet, drohen totalitäre Gefahren.

Diese Gedanken stehen im Zentrum von Derridas jüngstem Buch. "Von der Gastfreundschaft" (Passagen-Verlag, Wien, 35,20 DM), das dieser Tage erscheint, zeigt Derrida mitten in der Debatte um die Verschärfung der Einwanderungsgesetze. Der Text diskutiert das Heterogene im Selbstbezug, im Bezug auf den anderen: was jeder Gastfreundschaft zugrundeliegt und was die Ordnung in einem Haus, einer Gruppe, einer Nation stören kann. Lässt man diese Heterogenität nicht zu, drohen Rassismus und Nationalismus. Der in Algerien geborene Derrida möchte die Einwanderungsgesetze bezüglich der illegalen Einwanderer, der "sans papiers", liberalisieren. Aber er erkennt die Beschränkungen der neokapitalistischen Weltordnung: "Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass diejenigen, die für ökonomische Globalisierung - für eine Öffnung der Grenzen, bessere Zirkulation der Waren - eintreten, dieselben sind, die die Grenzen für die Immigranten schließen wollen. Liberalisierungen kommen also mit einer Einschränkung der Gastfreundschaft einher."

Nach Pierre Boulez (1992), Jean-Luc Godard (1995) und Zygmunt Bauman (1998) wird mit Jacques Derrida nach über 20 Jahren wieder ein Philosoph geehrt: ein Denker, der sich wie kaum ein anderer im Ausland mit der deutschsprachigen Kultur auseinandergesetzt hat - mit der politischen Theorie von Marx, Alfred Cohen und Hannah Arendt, der Philosophie von Husserl und Hegel sowie Freuds Psychoanalyse. Sein bewegliches Interesse gilt aber auch dem Mystiker Meister Eckart, der Prosa Franz Kafkas oder der Lyrik Paul Celans.

Klaus Englert

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false