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Kultur: Picknick im Frackhemd

Prima la musica: Glyndeborne, das eleganteste Opernfestival der Welt, feiert seinen 70. Geburtstag

Ängstlich schaut Papageno sich um, seine nackten Füße patschen auf den Boden, während ein Gewitterschlag sich in unmittelbarer Nähe krachend entlädt. Panisch umklammert er einen mächtigen Picknickkoffer, wie eine letzte Schiffsplanke auf hoher See. Mögen ihn Gurkensandwiches und Hummersalat vor dem Zorn der Götter schützen. Es besteht kein Zweifel: Mozarts hasenfüßiger Vogelfänger muss ein Ausländer sein. Ein Engländer würde niemals vor den Unbilden des Wetters flüchten, nie den einmal gefassten Plan eines Picknicks wegen eines Wolkenbruchs verschieben. Never ever. Und so amüsiert sich das Publikum von Glyndebourne über das zudem auch noch deutsch sprechende Weichei – stilvoll versteht sich. Die schwarz schimmernden Fliegen schaukeln still vergnügt an den Frackhemden.

Die Prüfungen, die Regisseur Adrian Noble Papageno in seiner neuen Zauberflöten-Inszenierung auferlegt, meistern die Besucher des elegantesten Opernfestivals der Welt mit links. Gehen Wassermassen über dem Landsitz der Familie Christie in Sussex fauchend nieder, so dass von der angrenzenden Wiese kaum noch das Blöken der Lämmer zu hören ist, dann rollt sich die Gesellschaft im feinen Abenddress während der Dinner-Pause eben in Daunenjacken und Wolldecken ein – und picknickt ungerührt auf der überdachten Außengalerie des Opernhauses. Der Wind bläst kalt, doch man vernimmt kein Klagen, kein Bibbern, bemerkt kein frustriertes Hinunterstürzen des Champagners.

Es ist diese englische Unerschrockenheit, die die besondere Atmosphäre von Glyndebourne prägt. Ohne sie hätte John Christie vor 70 Jahren in den sanften Hügeln der South Downs niemals seinen Traum wahr gemacht, Opernaufführungen auf eigenem Boden und höchstem Niveau zu produzieren. Ohne sie hätte sein Sohn George niemals das alte Theater abreißen und vor zehn Jahren aus Beton, Backstein und Pinienholz ein ideal proportioniertes Opernhaus mit fast 1300 Sitzen direkt neben dem Herrenhaus erbauen lassen. Und ohne sie hätte Enkel Gus Christie – inzwischen Regent über Wiese, Garten und Bühne – wohl nie einen Musikchef engagiert, der zu Amtsbeginn noch keine 30 Jahre alt war.

Mit seiner dritten Saison ist Vladimir Jurowski nun endlich ganz angekommen in Glyndebourne. Der junge Russe, der an der Seite seines Vaters Michail oft an Berlins Komischer Oper dirigierte und dort als kraftvoll zupackender Theatermusiker auf sich aufmerksam machte, leitet die zwei Premieren dieser doppelten Jubiläumssaison. Am Pult beider Orchester des Festivals, dem Orchestra of the Age of Enlightenment und dem London Philharmonic Orchestra, zeigt sich Jurowski verschlankt, verwandelt, stärker gelöst vom Vorbild des Vaters. Leichter und eleganter ist sein Dirigieren geworden, weniger Hantieren mit dem Donnerkeil als feines Schattieren am Orchesterklangbild. Ein beeindruckender Gewinn an Sensibilität, ohne dass dabei das Theaterblut je ins Stocken geraten würde. Wer Vladimir Jurowski im Opernhaus der Christies hört, der spürt: Dieser Dirigent steht vor einer Weltkarriere. Noch ist sein Wohnsitz Berlin. Schön, wenn die Opern der Hauptstadt davon mehr profitieren könnten.

Für sein erstes Mozart-Dirigat hätte sich Jurowski keinen besseren Ort wählen können als Glyndebourne. Mozarts Opern bilden die Keimzelle des Festivals, von Anbeginn finden sie sich jedes Jahr auf dem Spielplan. Dabei hatte Gründer John Christie eigentlich für Wagner geschwärmt, war kurz nach der Jahrhundertwende im Automobil nach Bayreuth aufgebrochen – und hatte wegen zahlreicher Pannen den ersten Akt des Parsifal verpasst. Doch seine Frau, die Sopranistin Audrey Mildmay, riet zu einem intimen Theater und zu Mozart. Aus Nazideutschland geflohen, brachten Regisseur Carl Ebert und Dirigent Fritz Busch ab 1934 die da Ponte-Opern in Sussex auf die Bretter. Damals mussten die Kulissen zum Wechseln noch in den Garten getragen werden. „Die Zauberflöte“ aber war in den letzten 13 Jahren verstummt in Glyndebourne. Davor war es zum Eklat gekommen. Peter Sellars versuchte sich des schwer verständlichen Freimaurertums durch eine Verlegung der Flöte unter einen von Drogen dominierten kalifornischen Highway zu entledigen. Das unerschütterlich tolerante Publikum buhte die Produktion von der Bühne.

Das Wagnis einer neuen Zauberflöte zum Jubiläum sollte ein erfahrener Theatermann auf sich nehmen. Adrian Noble, Ex-Chef der Royal Shakespeare Company, hat zudem mit seiner Londoner Inszenierung des Musicals „Chitty Chitty Bang Bang“ gerade einen echten West- End-Hit gelandet. Verrückter Professor irrt durch Sommernachtstraum? Nichts dergleichen. Alles ist hübsch bunt, aber unbelebt. Am besten kommen noch die drei Knaben weg, die einfach mit Luftballons davonfliegen. Das verbleibende Personal schaut traurig hinterher, sogar die Löwenfiguren wirken, als wären sie bei Disneys „Lion King“ wegen Depressionen gefeuert worden. Das Ganze hat den Charme eines umgestoßenen Pimm’s-Glases: Gurkenscheibe treibt neben Cocktailkirsche in einer klebrigen Lache. Vladimir Jurowski und das auf historischen Instrumenten spielende Orchestra of the Age of Enlightenment hingegen sprühen Funken und tragen ein geschlossenes Ensemble auf Händen, das mehr inszenatorische Hingabe verdient hätte.

Die zweite Neuproduktion der Saison koppelt zwei Einakter zum Thema Geiz miteinander. Wenn der wirklich geil wäre, dann gäbe es kein privat finanziertes Opernhaus in Glyndebourne. Die Tickets kosten bis zu 150 Pfund, über ein Drittel des Budgets steuern Sponsoren bei. Und nirgendwo hat man das Gefühl, mehr (Lebens-)Qualität für sein Geld zu bekommen. Davon will Rachmaninovs „Geiziger Ritter“ gar nichts wissen. Er muss raffen und fürchtet den Sohn als Verschwender seines Goldes. Sergei Leiferkus gelingt die bedrückend intensive Studie eines Besessenen, der das Leben von sich stößt und – von einem spinnenartigen Dämon umsponnen – ins Nichts stürzt. Annabel Ardens Regie fokussiert eng am stummen Abgrund, Jurowski und das London Philharmonic Orchestra lassen gleißende Fackeln in das Dunkel fallen. Ein musikalischer Tiefenrausch.

Die komödiantische Kehrseite der Geiz-Medaille ist der furiose Premieren-Höhepunkt: Puccinis „Gianni Schicchi“ saust los wie ein Marx- Brothers-Film, die von Gier verzerrten Erbengesichter springen wie Blitzlichtfratzen in den Zuschauersaal, Sentiment und Kalkül purzeln kühn durcheinander. Man hofft, noch einen Champagner im Picknickkorb vorzufinden, um mit Alessandro Corbelli, dem genialen Spielmacher, anstoßen zu können. Zum Teufel mit dem Geiz, Gianni!

Saison in Glyndebourne bis zum 29. August. Infos unter www.glyndebourne.com

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