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Zwischen Zenbuddhismus und Politik. Ko Un.

© Reuters

Poesiefestival Berlin: Dichten mit leeren Händen

Stimmen, Partituren, Politik: Neun Tage lang, vom 5. bis zum 13. Juni, präsentiert das Berliner Poesiefestival lyrische Stimmen aus aller Welt. Zum Auftakt am Donnerstag gibt es wieder die „Weltklang“-Nacht.

Von Gregor Dotzauer

Sinn und Zweck von Dichtung waren noch für den Breslauer Universalgelehrten und Stadtschulrektor Christian Stieff keine Frage. Es verhalte sich, schrieb er 1725 in einer „Anleitung zur Poesie, Darinnen ihr Ursprung, Wachsthum, Beschaffenheit und rechter Gebrauch untersuchet und gezeiget wird“, wie mit den anderen Künsten: „Ihr Haupt-Ursprung komt von Gott: ihre Gestalt, nehmlich die Regeln und die Ordnung, nach welchen man sich sowohl in der Erfindung als in der Schreib-Art richten muß, von Menschen, und vermuthlich von solchen, die zugleich Musiei gewesen.“

Überdies stand für ihn fest, dass es sich um eine „Nachahmung der Natur“ handle, und dabei wiederum nicht zuletzt um die Liebe als „rechte Säug-Amme der Poesie“, die „die Lebens-Geister vielleicht mehr anfeuret als der Wein“. Denn die Liebe „macht nicht nur, daß man zierlich, sondern dass man auch beweglich schreiben lernet; und beydes ist sehr vonnöthen, wenn man die Gunst eines Frauenzimmers gewinnen will.“

Weder mit Gott noch der Natur und der Liebe käme man heute sonderlich weit. Auch mit der Musik wäre es so eine Sache, falls man darunter einlullenden Wohlklang verstehen wollte. Und doch gibt es in der zeitgenössischen Lyrik noch Spuren von alledem – nur dass ihr die großen Ideen aus guten Gründen abhandengekommen sind und sie im Bewusstsein des Menschengemachten aller Geschichte manchmal den Blick hinaus richtet, um im Text die Idee einer anderen, vollkommeneren Ordnung entstehen zu lassen. Aber wie anders klingt das heute. „Ein Dichter ist kein Wegelagerer, sondern ein Mann mit leeren Händen“, sagt etwa der südkoreanische Dichter Ko Un, der jetzt in der „Weltklang“-Nacht zum Auftakt des Berliner Poesiefestivals in der Akademie der Künste auftritt. „Seine Bürde ist die Sprache.“ Und: „Ich bin ein ewiger Gefangener meiner Poesie. Aber ich brauche keine Begnadigung.“

In den 50er Jahren floh Ko Un vor den Verheerungen des Koreakrieges schwer traumatisiert in ein zenbuddhistisches Kloster und zog zeitweise als Bettelmönch durchs Land. Anfang der siebziger Jahre wurde er gegen den tyrannischen Präsidenten Park Chung-Hee eine führende Stimme der Demokratiebewegung. Mehrmalige Verhaftung und Folter durch den Geheimdienst waren die Folge.

Les Murray und Philippa Yaa de Villiers beim Poesiefestival

In seiner Lyrik, auf die auch die Nobelpreisakademie schon aufmerksam geworden ist, vermischen sich Spirituelles, Politisches und Naturgeschichtliches auf einzigartige Weise. Der Australier Les Murray versteht Gedichte als bewegliche Religionen – und hat als Landbewohner einen besonderen Sinn für alles Kreatürliche entwickelte. Die Südafrikanerin Philippa Yaa de Villiers entwickelt als Performerin ihrer autobiografischen Texte eine mitreißende Kraft. Zu ihnen gesellen sich außerdem die Dänin Ursula Andkjaer Olsen, der Deutsche Paulus Böhme, der Brasilianer Criolo und die Amerikanerin Alice Notley – alles zum Mitlesen im „Weltklang“-Reader.

Do 5.6., 19 Uhr, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10. Vollständiges Programm unter www.literaturwerkstatt.org

Ko Uns Gedicht "Dieses Flüstern"

Ko Un Dieses Flüstern

Der Regen fällt. Ich sitze am Tisch. Der Tisch spricht leise: Einst war ich eine Blume, ein Blatt, ein Stängel, Eine Wurzel unter der Erde, Die sich erstreckte bis zur Oase.

Das Eisenstück am Tisch spricht: Ich war der Adamsapfel eines Wolfes, der allein in einer Mondnacht heulte.

Der Regen hört auf. Ich gehe nach draußen. Das triefnasse Gras spricht zu mir: Einst war ich Eure Sorge und Eure Freude, Euer Leben und Eure Lieder, Eure Träume.

Jetzt spreche ich Zum Tisch, Zum Eisen, Zur Erde: Einst war ich du, war ich du, war ich du. Jetzt bin ich du, bin ich du.

Ko Un, 1933 in der südkoreanischen Provinz Jeollabuk geboren, lebt in Anseong. Aus dem Koreanischen von Ok-Hee Jeong

Les Murrays Gedicht "Die Gespräche"

Les Murray

Die Gespräche

Ein Vollmond geht immer am Abend auf und ein Mensch ist größer bei Nacht. Viele fürchten ihre Phobien mehr als den Tod. Der Glaskönig von Paris fürchtete zu zerspringen. Chinas Eunuchen verwahrten die Hoden in Spiritus

Von einem Niesen kann das Gehirn bluten. Ein Vollmond geht immer am Abend auf und ein Mensch ist größer im Liegen. Donald Duck war früher in Finnland verboten, denn er trug keine Hosen,

seine Lenden waren wie Daisys federumgürtet, und kein Strauß steckt den Kopf in den Sand. Das Heilmittel gegen Skorbut wurde gefunden, dann ging es wegen Theorien lange verloren. Der Anfang ist ein ständiger, weißer Klang.

Der Vollmond geht immer am Abend auf und Kapuzineraffen und Lemuren reichen Tausendfüßler herum, wollten sich berauschen an ihrem kräftigen Sekret. Im Mund das Tier, winden sie sich in Ekstase am Boden.

Beim Striegeln schlägt ein Pferdherz langsamer. Ein Fakt ist ein kleiner, kompakter Glaube, ein Sinnesdatum fürs Tier, Macht für den Menschen, auch wenn er wahr, auch während er wahr ist – wir lesen diese Gesetze bei Isaac Neuron.

Eine Frau gebar neunundsechzig Kinder. Manche Löwen paaren sich fünfzigmal am Tag. Napoleon war süchtig nach Siegen. Ein Vollmond geht immer am Abend auf. Heute können Soldaten guter Hoffnung sein.

Der Australier Les Murray, 1938 in New South Wales geboren, lebt in Bunyah. Aus dem australischen Englisch von Margitt Lehbert

Philippa Yaa de Villers' Gedicht "Kekse"

Philippa Yaa de VillersKekse

Die Schamlippen meiner Dorfcousine waren üppig und rund, ihr Teenie-Geschlecht wie bestäubt von kleinen Locken. Ich beäugte ihren Körper beim gemeinsamen Baden, sechs war ich und hatte Augen wie Ameisen, sie legten süßen Vorrat an in den Windungen meines hungrigen kleinen Hirns. Meine Dorfcousine war dunkelbraun wie die Schokokekse, die man nach der Sonntagsschule an uns verteilte. Nach den trockenen Tränen eines Papp-Jesus ließen sie die Kinder zu sich kommen hinaus zu Plastiktassen mit Limo und einem Keks für jeden aus dem gemischten Teegebäck. Zwischen Zitronenplätzchen, Erdbeerwaffeln, Butterkeksen die seltenen, begehrten Schokokekse. Und ich griff heimlich hinein, drehte mich weg: knabberte zuerst an den Rändern bis ich die süße Naht fand zwischen den Hälften ich leckte daran, bis sie schmolz. Ich und der Keks wurden eins: heilige Kommunion.

Uns Mädchen versprach man nichts außer dem Schutz der Ehe, sie würde das süße Geheimnis unserer Mitte bewahren.

Mit sechzehn hörte ich auf zur Kirche zu gehen. Ich sah ein ich war nur der Kekse wegen da gewesen.

Phillippa Yaa de Villiers, Jahrgang 1966, lebt in ihrer Geburtsstadt Johannesburg. Aus dem südafrikanischen Englisch von Odile Kennel

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