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Ganz privat. Die Poetin Caca Savic.

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Poesiefestival Berlin im Netz: "Es ist ein neues Wir-Gefühl entstanden"

Das Poesiefestival 2020 kann wegen der Pandemie nur digital stattfinden. Im Gespräch erzählen die Macher, wie aus der Herausforderung eine große Chance wurde.

Von Gregor Dotzauer

Das Poesiefestival wird 2020 gezwungenermaßen ins Netz verlagert. Was macht das Festival über die pure Fülle von Veranstaltungen hinaus zum Festival?
KARLA MONTASSER: Die Kunst besteht darin, eine Art virtuelles Lagerfeuer zu kreieren. Dafür haben wir die vertraute Struktur des Festivals fast komplett nachgebaut. Die Veranstaltungen haben feste Sendezeiten, ergänzend kann man jederzeit den Lyrikmarkt erkunden oder Interviews mit den „Weltklang“-AutorInnen lesen. Damit wird verhindert, dass man sich unmotiviert durchklickt

THOMAS WOHLFAHRT: Als Corona uns alle ins Homeoffice nötigte, dachten wir: Das ist der Gau. Doch die Entscheidung, alles auf Onlinebetrieb umzustellen, hat sich als richtig erwiesen – auch um den beteiligten KünstlerInnen etwas von dem wenigen Geld, das mit Lyrik zu verdienen ist, zukommen zu lassen.

Gibt es genuine Online-Projekte oder doch nur Ersatzveranstaltungen?
MONTASSER: Ich bin eine große Verfechterin des Diktums von Kookread, dass Veranstaltungen sein sollten wie Feuerwerke, die restlos abgebrannt und nicht archiviert werden: Wer nicht dabei war, hat Pech gehabt. Doch keine unserer Veranstaltungen versteht sich als bloßer Ersatz. Wir wollten keine abgefilmten Lesungen, hinter jeder Veranstaltung steht ein eigenes Konzept. Dennoch liebe ich die Idee, mir noch in zehn Jahren die Filme von Anne Carson von diesem Festival ansehen zu können. Und zwar gut produziert, nicht als verwackelten Fan-Clip.

Wie können sich bei alledem die Zuschauer begegnen?
SILVIA JACKSON: Wir werden nicht wie die Re:publica einen Nonstop-Chatroom einrichten. Facebook und Instagram bespielen wir seit einiger Zeit und haben dort eine aktive Community, was auch der Rücklauf zu unserer Challenge #planetpandme zeigt. Man trifft sich während der Veranstaltungen im Kommentarbereich und danach im Live-Chat. In der poetischen Bildung kommen noch Webinare und Zoom-Meetings dazu.

Worauf haben Sie sonst noch verzichtet?
MONTASSER: Auf den Austausch mit anderen FestivalmacherInnen, auf unsere internationalen Partner von Lyrikline, auf die Akademie der Künste als Spielort, auf die Füchse im Tiergarten und auf die Kinder und Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die das Haus sonst immer mit Energie gefüllt haben. Und natürlich auf die Parties.

Was macht Sie besonders stolz?
MONTASSER: Die weltweite Solidarität der DichterInnen zwischen 18 und 80 – zum Teil trotz Technikangst und prekärer Lebensumstände.

JACKSON: Einerseits senden wir in die ganze Welt, andererseits ist die Perspektive persönlicher, wenn DichterInnen aus ihrer Küche lesen oder Feld, Wiese und Stadtraum ihres Lebensumfelds einbeziehen. Dafür gibt es den schönen Begriff glocal.

Sie bitten nur um Spenden, verlangen aber keinen Eintritt. Mindern Gratisangebote nicht die Wertigkeit des Ganzen?
WOHLFAHRT: Es ist zu meinem Erstaunen nicht so, dass keine Spenden reinkämen. Ob es die Höhe der Einnahmen aus den letzten Jahren erreichen wird, weiß jetzt natürlich niemand.

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Wie erfahren Sie, wer über Berlin hinaus Ihr Programm wahrnimmt?
MONTASSÉR: Dafür gibt es Statistikprogramme. Unsere Reichweite hat sich auf jeden Fall erweitert. Ich habe Online-Praktikantinnen aus Wien, TeilnehmerInnen des Lyrikklubs aus allen möglichen Städten. Gerade die vom Shutdown stark getroffenen Länder Spanien und Frankreich haben intensiv an dem Programm „poe:du“ für Kinder teilgenommen.

JACKSON: Wir verzeichnen einen höheren Zugriff aus Österreich und der Schweiz, aber auch aus UK und den USA. Interessant sind auch die Zugriffe aus Italien, Türkei, Frankreich und Syrien.

Kommen die Festivalvorbereitungen auch der normalen Arbeit des Hauses für Poesie zugute?
WOHLFAHRT: Wir können jetzt „Fernsehen“ mit weltweiten Reichweiten. Niemand will den Live-Auftritt künftig durch Online-Formate ersetzen. Gut produziert sind sie an keiner Stelle billiger. Aber: Eine eigens für die Onlinewelt produzierte Strecke soll ab sofort dazugehören. Aufgebaut haben wird sich am Ende eine Mediathek, die – je nach Vertrag – dauerhaft zugänglich bleiben soll.

MONTASSER: Die Angst vor dem räumlichen Abstand ist weg. Ich kann mir jetzt auch Formate mit DichterInnen vorstellen, die zu alt sind zum Reisen oder zu krank. Das sind völlig neue Möglichkeiten. Das hatte ich noch nie: ein Festival, das ich so oft und so lang genießen darf, wie ich will.

Haben Sie Kriterien, worin der Erfolg dieses Festivals besteht?
WOHLFAHRT: Neben den Seitenaufrufen und der Medienresonanz? In dem immensen „learning by doing“, das wir innerhalb kürzester Zeit leisten mussten, ist nirgendwo Frust oder Depression entstanden. Im Gegenteil: Es entstand ein neues Wir-Gefühl.

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