zum Hauptinhalt
Echo im Eis. Sedna (Feodosia Ivanova) lebt mit Nanouk in einer Jurte.

© Neue Visionen

Polarkreis-Drama "Nanouk": Die Arktis lebt

Sehen lernen in der weißen Tundra von Jakutien: Milko Lazarovs Polarkreis-Saga „Nanouk“ läuft jetzt im Kino.

Da hinten, ganz am äußeren Rand der Linie, die das endliche Weiß vom endlosen Blau trennt, was ist denn das? Mal warten, bis es näher kommt. Wind säuselt im Ohr, anfeuernde Rufe erschallen. Ah – ein Mann, ein Schlitten, ein Hund.

Und was ist das für ein Suchbild? Schroff ragt das Felsenmassiv aus der weißen Tundra auf. Nichts geschieht. Irgendwas Bedeutsames muss aber zu sehen sein, sonst stünde das Panorama nicht so lange. Tatsächlich, vor den Bergen verläuft eine Spur. Da, ein Holzlaster in Miniatur brummt ins Bild. Wildnis ist nicht mehr zu haben ohne Zivilisation.

„Nanouk“, der Film, ist eine Saga, die sehen lehrt. Und schweigen, warten, die Zeichen deuten. Gerade weil sie nur das Nötigste erzählt und sich dabei auf die Faszination der Ferne verlässt. Das ist etwas, was im Kino trotz der zunehmenden – durch die Digitalisierung wieder bezahlbaren – Cinemascope-Formate seltsamerweise immer weniger geschieht.

Dabei ist die Totale, das majestätische Panorama, das ureigene Stilmittel der großen Leinwand. Dort drängeln sich stattdessen meist die in Nahaufnahme gefilmten Riesenschädel der Protagonisten und gewähren ungebeten Einblick in jede Pore. Wohl wegen des Trugschlusses, dass Nähe automatisch intensiver, authentischer ist als Distanz. Weil sie den ungeduldigen Blick des heutigen Menschen fürchten. Und weil der im Anthropozän auch im Kino immer mehr gilt als die Landschaft, die vor ihm da war und nach ihm sein wird.

Ob sie allerdings auf ewig so ein erhabenes Stillleben in Weiß und Blau bleibt, dem sich abends und morgens ein paar Rottöne beimischen, da sind hier am sibirischen Polarkreis Zweifel angebracht.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Wenn der alte Jäger Nanouk in den Himmel schaut, pflügen Kondensstreifen durch die Atmosphäre. „Es wird wärmer, der Frühling kommt immer schneller“, sagt er zu seiner Frau Sedna. Das reicht in Milko Lazarovs stilistisch und inhaltlich gleichermaßen beeindruckender Familiensaga aus, um zu zeigen, dass der Klimawandel auch bei den Ewenken in Jakutien ankommt. Und dass deren traditionelle Lebensweise in einer Jurte aus Rentierfellen verloren ist.

Die einander innig zugetanen Alten Nanouk (Mikhail Aprosimov) und Sedna (Feodosia Ivanova) wissen das. Ihre Tochter Ága (Galina Tikhonova), die dem Drama bei der Weltpremiere auf der Berlinale im Februar noch den Titel gegeben hat, weiß es auch. Gegen Vaters Widerstand hat sie sich Arbeit in einer Diamantenmine gesucht. Mutter Sedna hofft sehr, dass es bald wieder zur Versöhnung kommt. Wenn schon nicht zwischen den unvereinbaren Lebensweisen, der archaischen Nomadenkultur mit ihren Rentier-Mythen und der Ressourcenausbeutung der sesshaften Siedler, dann doch wenigstens zwischen Eltern und Kind. Immer wieder bringt Sedna beim kargen Mahl aus Trockenfisch das ebenso karge Gespräch darauf.

Selbst in der tosenden Schneestürmen ausgesetzten Jurte, wo Kameramann Kaloyan Bozhilov die in ihren Fellanzügen schlafenden Eheleute durchaus auch in Nahaufnahmen zeigt, bleibt der Blick diskret. Man hört nur, aber sieht nicht, wie Sedna die schmerzenden Beine von Nanouk einreibt. Umso klarer ist die Botschaft, als sie ihr eigenes, schwärendes Leiden bloßlegt.

Man denkt an den Stummfilmklassiker "Nanuk, der Eskimo"

Die Ernsthaftigkeit, mit der Milko Lazarov das tägliche Eisfischen, Netze flicken und Fallen stellen inszeniert, hat schon einen Hang zum Kulturfilm. 100 Jahre nach Robert J. Flahertys erster Stummfilmdokumentation vom Polarkreis, „Nanuk, der Eskimo“, ist es nicht zwingend, den harten Alltag im lebensfeindlichen Eis so ausführlich zu zeigen. Das haben längst Fernsehreportagen besorgt. Doch die klaglose Selbstverständlichkeit, mit der Nanouk und Sedna jeden Handgriff ausführen, erzählt mehr als ausschweifende Dialoge. Um alt und allein in der Kälte zu überleben, braucht es Besonnenheit und Sorgfalt, keine Hast.

Die Bewohner der Arktis seien „die verletzlichsten Menschen, die ich je getroffen habe“, sagt der 1967 in Bulgarien geborene Regisseur Lazarov. Deswegen habe er sie aus der Entfernung zeigen wollen. Genau so funktioniert es – auf dem Meer, in der Sand- oder der Schneewüste. Die extreme, optisch reduzierte Landschaft verstärkt das Bild menschlicher Zerbrechlichkeit.

Beim Filmfest Sarajevo gewann "Nanouk" den Hauptpreis

Dafür hat die Jury des Filmfests Sarajevo unter Vorsitz von Asghar Farhadi „Nanouk“ im Sommer den Hauptpreis, das „Herz von Sarajevo“ verliehen. Bestimmt auch für den Mut, mit dem „Nanouk“ am Ende einen neuen, überwältigenden Ton anschlägt. Wo die Ouvertüre noch einer munteren folkloristischen Maultrommelmusik gehörte, rauscht nun das melodramatische Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie zu einer Szene in Russlands größter Diamantenmine auf. Entsetzlich, was für Löcher die industrialisierte Zivilisation der Welt schlägt. Doch aus der Ferne betrachtet, schrumpfen sie ebenso wie die Menschen zum Landschaftsornament.

In 8 Berliner Kinos, OmU: Hackesche Höfe, Krokodil, Moviemento, Kulturbrauerei

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false