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Der Kandidat. Peer Steinbrück diskutiert im Tagesspiegel-Verlagsgebäude.

© Doris Spiekermann-Klaas

Politische Kultur: Macht und Ohnmacht der Leidenschaft

Peer Steinbrück hat eine Diskussion entfacht. Die könnte mehr sein als nur Wahlkampfmusik.

Peer Steinbrücks hanseatisches Temperament wechselt durchaus quecksilbrig zwischen Ratio, Emotion und Eruption, zwischen Galle und Geist, norddeutscher Coolness bis hin zur Schroffheit – und etwas, das er bei Angela Merkel so heftig vermisst: Leidenschaft. Diese Blindstelle, vor allem im Hinblick auf das Engagement für Europa, hat der Kandidat der Kanzlerin gerade am vergangenen Sonntag in einer öffentlichen Diskussion im Tagesspiegel-Verlagshaus vorgehalten.

In der neuen „Spiegel“-Ausgabe greift auch der Sozialphilosoph Jürgen Habermas einmal mehr die mangelnde „gesamteuropäische Verantwortung“ auf und nennt Angela Merkels Politik in der Krise „tranquillistisches Herumwursteln“. Denn: „Ihrer öffentlichen Person scheint jeder normative Kern zu fehlen.“ Jakob Augstein in seiner jüngsten Kolumne auf „Spiegel-Online“ sagt es noch schärfer, „was sie (Merkel) ist: eine leere Seele, deren Furcht vor Veränderung uns alle auf ihr Niveau der inneren Ereignislosigkeit herabzieht“. Laut Augstein müsste die SPD, mit oder ohne Peer Steinbrück, Merkel „dort angreifen, wo sie schwach ist, bei der Überzeugung, bei der Begeisterung“, auch bei der „Sehnsucht“ und dem „Gefühl“. So wird auch hier, ganz neoromantisch die wahre Leidenschaft vermisst.

Robert Musil, dessen mehr als tausendseitiges Jahrhundertwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“ heißt, sah bereits vor mehr als 70 Jahren darin alle „Leidenschaften der Welt“ von einer „ungeheuren, aber völlig unbewussten Anstrengung“ überwältigt, „welche die Menschheit“ unternehme, „ihre Gemütsruhe zu bewahren“. Also: Indolenz und Gleichgültigkeit statt Leidenschaft und Mitgefühl.

Angela Merkels Kern scheint tatsächlich ohne Glut zu sein, ohne ein erkennbares normatives Ideal, das sich unter demokratischen Verhältnissen nicht jederzeit den demoskopischen Bedingungen unterwürfe. Was eine Mehrheit der Deutschen, laut jenes Merkelschen Überichs namens Demoskopie, an ihrer mit so selbstbewusst-sympathischer Ruhe und Kantenarmut agierenden Frontfrau nicht stört. Was sie vielmehr beruhigt, also schätzt. Merkel wäre demnach auch die neue Frau ohne Eigenschaften. Freilich war Musils Romanheld (ein Mathematiker, nebenbei) in seiner nicht festgelegten Eigenschaft des Uneigentlichen immerhin ein utopischer „Möglichkeitsmensch“. Die Kanzlerin steht nun gleichfalls für alles Mögliche, für allerlei eben noch für unmöglich gehaltene politische Wendungen, aber doch eher auf pragmatischster Basis.

Leidenschaft in der Politik gilt den Deutschen dagegen als unbequemer, riskanter Zug – in kritischen Zeiten. Das war einmal anders: bis 1945 pathetisch und fürchterlich hin zur halben Weltzerstörung; oder beschwingt progressiv zur Zeit des mit Leidenschaft für eine neue Ost- und Friedenspolitik kämpfenden Kanzlers Willy Brandt. Damals war das Utopische noch näher, der Hoffnungshorizont weiter, die Visionen galten in der Politik noch nicht als Fall für den Arzt.

Die Diagnose, „leidenschaftslos“ zu sein, ist als Lebens- und Berufsprinzip dennoch kein guter Befund. Hegel hat für die Leidenschaften (im Plural) noch die große Koalition empfohlen: mit der „List der Vernunft“. Die Leidenschaft im Singular galt dem Soziologen Max Weber dagegen als unverzichtbar. In seinen berühmten Ausführungen über „Politik als Beruf“, die vor knapp 100 Jahren eine grundlegende Analyse modernen politischen Handelns lieferten, nennt Weber drei Essentials des demokratischen Politikers: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“

Tatsächlich gehört zu einer der Haupterfahrungen der Moderne die Skepsis gegenüber einer Herrschaft der emotionslosen, empathiefreien Technokratie. Und Bürokratie. Die Nazidiktatur, die jedes Pathos missbrauchte und als Pathetik, als schwülstig kalte Leidenschaft inszenierte, war so auch ein tödlicher Triumph der Technokratie.

Thomas Mann lässt seinen genialen Komponisten Leverkühn im „Doktor Faustus“, noch ein Jahrhundertroman und 1947 eine parabelhafte Antwort auf den Jahrhundertschrecken, einen modernen Teufelspakt eingehen. Und der neuzeitliche Luzifer fordert als Gegengabe vom „deutschen Tonsetzer“ Adrian Leverkühn den Verzicht auf wirkliche Liebe: „Dein Leben soll kalt sein!“

Das Unbehagen in der Politik, um einen Begriff Sigmund Freuds zu variieren, mag heute in der Tat aus einem Mangelgefühl herrühren, das sich nicht so sehr an der schwer durchschaubaren Komplexität der Materie festmacht als an der Empfindung von diffusem, kaltem Personal. Statt authentischer Leidenschaft erlebt man zumal bei Kontroversen in Parlamenten oder TV-Talkshows nur jene „sterile Aufgeregtheit“, die Max Weber in Anlehnung an seinen Soziologenkollegen Georg Simmel voraussah und mit politischer Leidenschaft genau nicht meinte.

Woran aber könnte sich das Leidenschaftliche heute aktuell entzünden und offenbaren? Aus dem selbsterlebten Leiden, den ein Teil der Kriegsgeneration mit dem Willen verband, eine bessere Welt zu schaffen, kommt der Impuls nicht mehr. Aber der Skandal der neueren Finanzwirtschaft, die soziale Gerechtigkeitsfrage, der universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte öffnen genug Raum fürs moralische „Empört euch!“ und rationale, reale Reformen. Hinzu kommt: Europa.

Hierzu fehlt der deutschen Regierungspolitik, die nichts weiter bietet als eisigen, kurzatmigen (illusionären?) Fiskalismus, jede Perspektive. Der neue Nord-Südkonflikt in Europa, der mehr ist als ein ökonomischer zwischen Reicher und Ärmer, gerät längst zum Clash der Kulturen – innerhalb eines Europas, das sich seiner Gründung auf dem Fundament einer gemeinsamen politischen Kultur immer weniger erinnert. Hier mangelt es tatsächlich an jenem oft geforderten Narrativ, an einer Erzählung Europas, die im geistigen Dreischritt von der Antike über die Aufklärung zur Gegenwart die Idee einer zweiten Renaissance bedarf. Sie wäre jetzt der Leidenschaft wert, von Politikern, von Europäern.

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