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Unter dem Doppeladler. Entgegen einem verbreiteten Mythos nahm Skanderbeg nicht an der Schlacht auf dem Amselfeld im Kosovo teil – der serbische Thronanwärter ließ ihn nicht anreisen. Foto: G. Ricatto / mauritius images

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Politische Literatur: Der Held der Skipetaren

Kosovo, Mazedonien, Südserbien: Viele Albaner träumen den Traum vom Großreich – wie Skanderbeg, der sagenhafte Freiheitskämpfer. Eine neue Biografie sorgt nun für Unruhe: War der Kriegsheld etwa orthodoxer Serbe?

Osmanische Kriegerhorden fallen über albanische Hirtendörfer her, morden, brandschatzen, vertreiben. „Dieser Wolfsjunge hat kräftige Zähne: Das wird ein guter Krieger für den Sultan!“ Dann entreißt der Janitscharenanführer höhnisch den Knaben aus den Armen des Vaters. Mit dieser Form der Knabenlese soll die Unterwerfung Ivan Kastriotas unter Murad II. abgesichert werden. So beginnt der sowjetisch-albanische Historienfilm „Skanderbeg: Ritter der Berge“. Kein Zufall, dass er 1953 unter Diktator Enver Hodscha gedreht wurde: der albanische Nationalist und Stalin-Verehrer nutzte die seit Ende des 19. Jahrhunderts um sich greifende Skanderbeg-Ikonografie zur Speisung des Kults um seine eigene Person.

Skanderbeg, Bergfürst der Albaner – längst gilt er als Inbegriff des Freiheitskampfes, aber auch der nationalistischen Großmannssucht der Albaner, die noch immer von einem Großalbanien träumen, das auch den Kosovo, Teile Mazedoniens und Südserbiens einschließt. Am Donnerstag entscheidet der Internationale Gerichtshof darüber, ob das Kosovo ein eigenständiger albanischer Staat bleiben darf – oder ob die Proklamation der Unabhängigkeit von Serbien und die Anerkennung durch ein paar Dutzend Staaten weltweit doch völkerrechtswidrig war.

Für Skanderbeg, über den nun erstmals in deutscher Sprache eine umfassende Biografie erschienen ist, wären solche Kategorien wohl zweitrangig gewesen. Wir befinden uns im späten Mittelalter. Das osmanische Reich, das 1358 erstmals auf europäischen Boden übergegriffen hatte, sucht im 15. Jahrhundert seinen Machtbereich in den Adriaraum auszuweiten. Die Hinwendung zum Westen versperrt den Sultanheeren aber das Bergland auf dem Gebiet des heutigen Nordwest-Mazedonien, West-Kosovos sowie Mittel- und Nordalbaniens – Stammlande der Albaner. Deren Bergfürsten wissen ihre kargen Besitztümer und ihre christliche Religion wohl zu verteidigen, doch gegen die Übermacht des Großtürken haben sie nicht selten das Nachsehen. Kastriota ist einer von ihnen. Sein Sohn Georg ist es, den die Osmanen nach Adrianopel, dem heutigen Edirne verschleppen. Am Hofe des Sultans tritt er vom orthodoxen Glauben zum Islam über, bildet sich fort und wird zum gefürchteten Kriegsherrn. Das bringt ihm den ehrenvollen Beinamen „Skanderbeg“ (türkisch für Alexander) ein. Zu seiner Heimat hält er dennoch Kontakt und bekommt mit, dass Murad II. seinen wieder aufständischen Vater ermorden lässt. Das dürfte mit dazu beigetragen haben, dass er 1443 eine günstige Gelegenheit nutzt, den Sultan zu verraten, sich abzusetzen und der strategisch wichtigen Feste Kruja in Mittelalbanien zu bemächtigen, die bis zu seinem Scheitern eine Schlüsselrolle spielen sollte und heute Kultstätte in Albanien ist.

Zum katholischen Glauben übergetreten führt er von da an, mehr schlecht als recht von den europäischen Mächten unterstützt, einen 25-jährigen Abwehrkampf gegen Osmanen und Islamisierung, der seinen Ruhm begründete und zur Legende wurde. Mit dem endgültigen Fall von Kruja und der Verheerung des Fürstentums Skanderbegs steht 1467 Sultan Mehmed II. an der Adria: Das Ende Albaniens bis zur Wiedergeburt 1912.

Nicht nur für Albaner ist der zähe Bergfürst zum Inbegriff des Freiheitskampfes geworden. Reiterdenkmäler Skanderbegs stehen heute in Albanien, im Kosovo, in Mazedonien, selbst in Rom; in Paris und Brüssel sind Plätze nach ihm benannt. Schon zu Lebzeiten ging ihm der Ruhm voraus, ein Bollwerk gegen den osmanischen Imperialismus gebildet zu haben. Begründet wurde der Mythos mit der Biografie „Leben und Taten Skanderbegs, des Fürsten von Epirus“ (1508) von Marinus Barletius, die bis in unsere Tage als die gründlichste Quelle gilt. Vor dem Hintergrund einer solchen quasireligiösen Verehrung kann eine an wissenschaftlichen Kriterien ausgerichtete Neudarstellung nur provozieren. Der Schweizer Historiker Oliver Jens Schmitt macht genau das. Er hat so ziemlich alle Quellen ausgewertet, die zu Skanderbeg vorliegen; das erlaubt es ihm, dessen Gestalt und Wirken souverän bis in die Gegenwart nachspüren und neu bewerten zu können.

War Kastriota der strahlende Ritter der Legenden, gar der „neue Alexander“, oder doch eher ein provinzieller, tragischer Held? An wem ist er letztlich gescheitert: an den Fehden der Albaner-Clans untereinander? Am „sacro egoismo“ Venedigs, Mailands oder Neapels? An der Uneinigkeit der Christenheit, wenn es gegen „den Türken“ gehen sollte? Schmitt klopft das Verklärende der Skanderbeg-Rezeption auf Wahrheitsgehalte ab, und schreckt dabei auch nicht vor Tabus der Ikonenverehrung zurück, was ihm empörte Kritik eingetragen hat. Ismael Kadare, Nationaldichter der Albaner, der mit seinem Epos „Die Festung“ dem heroischen Kampf um Kruja ein Denkmal gesetzt hat, trat unmittelbar nach der Veröffentlichung des Buches eine Kampagne los: Er erkenne seinen Helden nicht mehr wieder; von einem Angriff auf die Idee der Freiheit war da die Rede, und auch in den Albaner-Cafés ging es nur noch um die Frage: war Skanderbeg immer schon „reinblütiger Albaner“, abstammend von den gern angeführten Illyrern und Epiroten? Oder, Schmitt folgend, wie die Eltern-Vornamen Ivan und Voisava nahelegen, serbisch-orthodox, was sich nun ganz und gar nicht mit dem Selbstverständnis der Skanderbeg-Verehrer in Tirana, Prishtina oder Tetovo verträgt? Schmitt will Skanderbeg nicht kleinreden, keine patriotischen Gefühle verletzen, sondern nach so vielen Jahrhunderten lediglich der historischen Wahrheit den Weg ebnen: Die Kastriotas, weist er nach, entstammten einer Gesellschaft, die rundum byzantinisch-serbisch geprägt war; Albanien war damals bestenfalls eine „geographische Raumbeschreibung“, kein politisch definiertes Herrschaftsgebiet. Das kam erst in der Neuzeit, als sich zudem die völkische Eigenbezeichnung vom Albaner zum „Shiptaren“ wandelt. So auch kurzzeitig im Deutschen: Karl May entführt den Leser ins „Land der Skipetaren“ (1892). Auch kämpfte Skanderbeg unter dem roten Banner mit dem orthodoxen schwarzen Doppelkopf-Adler – bis heute Symbol selbstbewussten Albanertums.

Bei aller wissenschaftlichen Neubestimmung Skanderbegs – das 2. Kapitel allein umfasst 688 Fußnoten! – ist Schmitt auch ein mitreißender Erzähler. Auf gut dreihundert Seiten entwirft er die „Anatomie eines Aufstands“, ein Historien-Panorama der Renaissance des Adria- und Balkanraums, in das man sich gern versenkt. Während an den europäischen Höfen das Ausspielen der Gegner, Hinterlist und opportunistische Seitenwechsel den Türkenkampf bestimmen, geht es auf dem Balkan um Leben und Tod: es wird geköpft, gehäutet oder gepfählt – Gefangene hindern nur. Die Schilderung dieses ein Vierteljahrhundert währenden blutigen Kräftemessens Skanderbegs mit den Osmanen mit scheinbar unzähligen Schlachten und Gefechten, laufend wechselnden Kriegsparteien, dem ewigen Sommer-Winter-Rhythmus von Kampf und Ruhen, von Zerstörung und Wiederaufbau, von Vertrauen und Verrat entfaltet einen Sog, dem sich der Leser kaum entziehen kann.

Schmitt ist ein großer Wurf gelungen. Dazu trägt nicht zuletzt sein Schlusskapitel „Ein Aufstand und sein Anführer: Versuch einer Deutung“ bei, das gut auch separat gelesen werden kann. Wir sehen jetzt einen Skanderbeg vor uns mit Stärken und Schwächen; in Abhängigkeit von seinen mitalbanischen Nachbarfürsten, von den Eifersüchteleien der italienischen Mächte, von begrenzter Zahl und Bewaffnung der Bergler und Söldner, die er aufbieten konnte. Ein „Athleta Christi“ war er nur für den Papst; ein treuer Vasall und Freund nur für den neapolitanischen König. Aber auch einen Skanderbeg, ohne dessen Motivation und Entschlossenheit, Unbeugsamkeit und Mut die Osmanen niemals 25 Jahre von der Adria ferngehalten worden wären. Spätestens mit seiner Zeit beginnt die balkanische Unübersichtlichkeit; aber er entfacht auch einen albanischen Patriotismus, der nie mehr zum Erliegen kommen sollte. Dabei war Skanderbeg ganz und gar kein Territorialfürst mit der strategischen Leistung eines Alexander des Großen. Immer nur kurzzeitig vermag er als „Winter-Herrscher“ das kastriotische Stammland einiger Weiler und Weiden, Berge und Täler auszuweiten, um es im Sommer schon wieder an albanische Rivalen oder den Sultan zu verlieren. Wie alle Guerillaführer setzt er auf asymmetrische Kriegsführung, mit der Ortskenntnis als seinem wichtigsten Verbündeten. Ein konsolidiertes „Reich“ ließen die zentrifugalen Stammesverhältnisse ebenso wenig zu, wie ein nachhaltiger militärischer Sieg über das Sultan-Reich schon von den Kräfteverhältnissen ausgeschlossen war. Sein „Albanien“ musste ein Provisorium bleiben. Immerhin war es ihm als Nation-Builder vergönnt, wenigstens die Grundlagen albanischer Staatlichkeit zu legen. So gesehen, ist auch Schmitts „neuer“ Skanderbeg niemand, für den sich Albaner schämen müssten.





Oliver Jens Schmitt:
Skanderbeg.

Der neue Alexander auf dem Balkan.

Verlag Friedrich

Pustet, Regensburg 2009, 432 Seiten,

26,90 Euro.

Michael Schmunk

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