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Phantom mit Fahne. Pegida-Anhänger marschieren vor dem historischen Fürstenzug in Dresden.

© Arno Burgi/dpa/pa

Politischer Essay: Der besorgte Bürger

Er trägt viele Gesichter und wird nicht nur die Wahl am Sonntag in Bayern entscheiden. Anmerkungen zu einem aktuellen Typus.

Er ist das allgegenwärtige Phantom der deutschen Politik. Ja, er bestimmt mittels der AfD, die sich auf ihn beruft, sogar die Agenda der übrigen Parteien. Auch jetzt bei der Bayern-Wahl beziehen sich bei den Themen Einwanderung und Migration alle immerzu auf ihn: den besorgten Bürger. Ein Typus, der nie gegendert wird. Die besorgte Bürgerin, deren Schwestern in den USA oder in Frankreich Trump oder Le Pen wählen, ist im öffentlichen Diskurs nicht ausdrücklich gefragt. Aber wohl mitgemeint.

Es gibt noch ein paar andere Bezeichnungen. Früheres Beispiel: Wutbürger. Neuerdings, als Gegenbild zum Weltbürger, zum Mitglied der angeblich entwurzelten globalen Klasse wird auch der Heimatbürger ins bodenständige Feld geführt. Tritt der besorgte Bürger mit fremdenfeindlichen Brüllern auf, dann gehört er womöglich zum Mob oder „Pack“. Doch ihn wie den Beelzebürger verbal auszutreiben, das versuchte schon Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel. Genützt hat es nichts. Der besorgte Bürger ist da, ein irgendwie rechts verorteter Mustermann samt deutscher Haus- oder Frontfrau. Ein Wähler und Gewählter, mit steigender, respektive auch abgründiger Tendenz. Wer also ist er, woher kommt er?

Plötzlich gilt sogar Adolf Hitler, Deutschlands größter Vogelschiss und Unheilsgeier, als unverhoffter Vordenker. Doch mag man einem Alexander Gauland immerhin glauben: Als er in der „FAZ“ die eigene AfD-Klientel als Opfer eben jener elitären Globalisierungsklasse beschrieb, musste er nicht jede Hitler-Rede mit ähnlichen Wendungen (gegen das damals gemeinte „Weltjudentum“) gekannt und parat gehabt haben. Auch wenn sein „FAZ“-Gastbeitrag zum politischen Populismus den Kolumnentitel „Fremde Federn“ trug.

Der besorgte Bürger macht seinerseits Bürger besorgt

Der besorgte Bürger jedenfalls multipliziert sich, macht seinerseits Bürger besorgt. Die etablierten Parteien wollen ihn teils bekämpfen, teils gewinnen und mit seinen Sorgen ernst nehmen. Allein, wo und wie kann man ihn fassen? Der Bürger an sich ist nicht mehr dritter Stand, nach Adel und Klerus. Er bildet, bald ein Vierteljahrtausend nach der Französischen Revolution und zweihundert Jahre seit den Anfängen von Industrialisierung und Kapitalismus, heute den gesellschaftlichen Mittelstand. Einschließlich der Arbeiter und Bauern. Und mit eher fließenden Grenzen: nach oben hin zum in Deutschland fast ausgestorbenen klassischen Großbürgertum und nach unten zu einem in fast ganz Europa wieder wachsenden Prekariat. Diese neue alte Unterschicht, gezeichnet von Arbeitslosigkeit oder der Abhängigkeit von Sozialleistungen, heißt nicht mehr Proletariat. Sie entspringt zumeist selbst dem mehrheitsgesellschaftlichen Bürgertum, das an seinen Rändern zunehmend von Abstiegsängsten befallen ist.

Viele Umfragen belegen das oder Studien wie die des Soziologen Heinz Bude, der „Die Gesellschaft der Angst“ beschreibt. Dass gerade in Deutschland mit seiner niedrigen Arbeitslosigkeit und seinem relativ engmaschigen sozialstaatlichen Netz diese Sorgen oft auch Phantomschmerzen sind, ändern nichts an ihrer Wirksamkeit. Auch Einbildungen setzen Realität und ersetzen Bildung, genau wie populistische Vereinfachungen und Desinformationen, die als solche entweder nicht erkannt oder umso trotziger geglaubt werden. Manche, die Amerika nicht mögen und auch nicht Trump, sind dennoch Trumpisten.

So berühren sich in der Sphäre des Populistischen, Populären und Emotionalen auch Rechte und Linke. Gegenüber der globalen Klasse, die in Frankreich den Namen „clique mondialiste“ trägt, sind sich rechts und links manchmal in ihrer Uneinigkeit einig. Ernst Jandl hatte insoweit recht (oder: lecht). Man hat es in Berlin selbst im Kulturkampf um die Volksbühne und im Ressentiment gegen den Ausländer und zur global-liberalen Kunstmarktelite gezählten Chris Dercon gemerkt. Das Nationale und das Sozialistische haben ihre Verbindungen. Sahra Wagenknecht weiß das.

Der Wald gehört wie der Schäferhund zur Identität

Auch das Grüne gerät für die Rechten oder einfach nur konservativ Besorgten, wenn sie von bedrohter Natur und Heimat sprechen, mit ins Visier. Nicht nur der deutsche Wald gehört wie der deutsche Schäferhund zur Identität. Allerdings, apropos Hambacher Forst, bei der deutschen (Braun!-)Kohle unterscheiden sich Grün und rechts noch so scharf wie bei der Einwanderungspolitik. Das liegt daran, dass die AfD-Spitze ähnlich wie Trump den Klimawandel negiert. Dieser Wandel wiederum macht nach jüngsten Umfragen der Mehrheit der Deutschen am meisten Sorge. Bei einem Thema von so viel (internationaler) Komplexität geraten dann rechte Populisten schnell an ihre geschlossenen Grenzen.

Vieles erweist sich, genau betrachtet, als widersprüchlich. Typologisch kommt man daher dem besorgten Bürger in seiner Vielgestaltigkeit nicht so leicht bei. Er markiert keine einheitliche Klasse oder Schicht. Vielmehr: soziale Schichtungen, sozialpsychologische Gemengelagen.

Es gibt rabiate Fremdenfeinde in Gegenden fast ohne Fremde. Wahlerfolge der AfD (zuvor der NPD) sind signifikant auch in den prosperierenden Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern, dort oft in den wohlhabenden Gemeinden. Da finden sich Sozialdarwinisten neben Protestwählern, die es „denen da oben“ mal zeigen wollen. Ihnen kommt zupass, dass die Berliner Groko, allen voran die Kanzlerin, jetzt „wieder mehr auf die Sorgen der Bürger hören“ möchte, sich also implizit selbst anklagt – aber gleichzeitig ohne übergreifende Konzepte und in aktuellen Konflikten handlungsschwach und selbstbezogen agiert.

Regelrechte Neonazis, die sich wie in Chemnitz nicht mehr scheuen, öffentlich den Hitlergruß zu zeigen, mischen sich unter die Leute, die bei Pegida mitlaufen. Es gibt dort Antisemiten, doch zugleich Menschen, die nicht nur Orban und Putin, sondern auch Netanjahu toll finden, weil er es, wie sie meinen, „den Arabern zeigt“. Das wiederum ist Ausdruck jenes antimuslimischen Affekts, dessen sich Pegida schon im Namen bedient und den alle radikalen Gegner einer Einwanderungspolitik (und der ursprünglichen Merkelschen Flüchtlingshilfe) teilen.

20 Prozent der Bevölkerung denken rechts

In den meisten europäischen Staaten nehmen Forscher an, dass etwa 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger rechte, gegen eine offene demokratische Gesellschaft gerichtete Einstellungen haben. Manche sind „Gefährliche Bürger“, so der Titel eines schon vor vier Jahren erschienenen Buchs von Liane Bednarz und Christoph Giesa. Doch die rabiaten Skins und die Rassisten mit den Totschlägermienen von einst, die Wiedergänger der ewigen Spießer aus Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ oder aus den Stücken von Ödön von Horváth mit ihren vor 1933 noch nicht restlos entfesselten (Klein-)Bürgern vom Münchner Oktoberfest oder dem Wiener Prater, sie sind heute klar in der Minderheit. Die Berliner Republik ist nicht Weimar gestern, sie ist wirtschaftlich stark, international verflochten, mit unabhängiger Justiz und Institutionen, die von mehr als zwei Dritteln der Bundesbürger trotz punktueller Kritik mit Überzeugung getragen werden.

Die „Unteilbar“-Demo gegen rechts am Samstag in Berlin repräsentierte also die oft nur schweigende Mehrheit. Eine Frage bleibt freilich, ob dies nur die Selbstbestätigung des linksliberalen juste milieu bedeutet oder tatsächlich auch eine Brücke schlägt etwa zu den Fällen von besorgten Bürgern, die in kein Rechts-links-Schema passen. Junge Familien oder Rentner, die auf dem eng gewordenen Wohnungsmarkt bei explodierenden Mieten mit Flüchtlingen konkurrieren („Und die kriegen die Wohnung vom Staat bezahlt!“). Oder liberal weltoffene Frauen, die sich im Alltag trotzdem von Macho-Migranten bedroht fühlen. Oder Eltern, die nicht gegen Einwanderung sind, aber in Schulen mit 80 Prozent Ausländeranteil um die Bildungschancen und damit die Zukunft ihrer Kinder fürchten.

Man spürt die allgemeine Verunsicherung. Menschen suchen Veränderung – und scheuen sie zugleich. Das (wert)konservativ Bewahrende trifft auf den womöglich reaktionären Reflex. Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck spricht in seinem letzten, 2016 erschienenen Buch „Die Metamorphose der Welt“ von der neuen „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, vom Nebeneinander des „Neandertalers“ und des „Homo cosmopoliticus“. Sie kämpfen etwa in der Migrationspolitik miteinander. Was aber, wenn die beklagte Spaltung der Gesellschaft auch durch den Einzelnen geht? Der besorgte Bürger, soweit er noch aus der Mitte kommt, trägt Becks Neandertaler und den Kosmopoliten in sich, als Janusgesicht. Er ist auch: der gespaltene Bürger. Und beide Hälften fragen unausgesprochen nach dem, was Joachim Meyerhoffs Buchbestsellermotto fragt: „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“

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