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Politisches Buch: Entscheider ohne Macht

Ed Stuhler entlockt den Akteuren der untergehenden DDR nach 1989 bemerkenswert freimütige Erkenntnisse – und eine Prise Selbstmitleid.

Von Matthias Schlegel

Die Botschaft wird klar, ehe man das Buch aufgeschlagen hat: Das Titelfoto von der Umarmung des übermächtigen Helmut Kohl mit dem zierlichen, graubärtigen Lothar de Maizière auf dem CDU-Vereinigungsparteitag am 1. Oktober 1990 fasst die Problematik schlüssiger zusammen als ein wortreicher Prolog. Die Personen stehen für die beiden Teile Deutschlands – und sie versinnbildlichen, mit welchem Gewicht jede Seite in die Vereinigung ging.

Dass ein Buch, das bereits in der ersten Zeile des ersten Kapitels einen Fehler aufweist (seine Regierungserklärung als Ministerpräsident gab Lothar de Maizière nicht am 18., sondern am 19. April 1990 ab), doch noch ein lesenswertes Werk werden kann, beweist Ed Stuhler mit „Die letzten Tage der DDR“. Das Verdienst freilich gebührt weniger dem Autor als den rund drei Dutzend Zeitzeugen aus jenen 329 Tagen von den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März bis zum Tag der Einheit am 3. Oktober 1990. Ausführlich kommen Minister, Parlamentarier und Parteifunktionäre zu Wort – vor allem aber der letzte DDR-Ministerpräsident selbst.

Neben bis heute gut erinnerlichen Leuten wie dem Einigungsvertragsverhandler und später unglücklich gescheiterten Verkehrsminister Günther Krause, dem Innenminister und heutigen Rechtsanwalt Peter-Michael Diestel oder dem wegen des Koalitionsbruchs am 16. August um die Unterschrift unter den 2-plus-4-Vertrag betrogenen Außenminister Markus Meckel kommen auch längst von der Bildfläche verschwundene Personen zu Wort wie Gesundheitsministerin Christa Schmidt, Landwirtschaftsminister Peter Pollack, Bauminister Axel Viehweger, ein vergrätzter Wirtschaftsminister Gerhard Pohl und zahlreiche Abgeordnete.

Herzerfrischend authentisch wirken diese flüssig verquickten Zeitzeugenberichte, bergen sie doch ungezählte Episoden aus einer Zeit mit rasanter Dynamik, mannigfaltiger Improvisation, unvorstellbarer Kärrnerarbeit eines aus politischen Laien besetzten Kabinetts und einer vom Umbruch beseelten Volkskammer. Immer wieder scheint dieser seltsame Widerspruch der Handelnden auf – einerseits noch einmal ein freies, demokratisches, souveränes Staatswesen auf die Beine stellen zu wollen, andererseits dieses selbst abwickeln zu müssen. Im günstigsten Falle wollten sie den untergehenden Staat auf Augenhöhe in die Vereinigung führen. Dass es am Ende nicht zu dem erhofften neuen Deutschland auf der Basis einer neuen Verfassung kam, sondern es nur zu einem Beitritt der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz reichte und dass die erstrebte Souveränität kaum mehr als gleitfähige Kompatibilität war, stieß manchem der Gesprächspartner noch nach 20 Jahren bitter auf.

De Maizière versucht wacker gegen das wohlfeile Vorurteil zu Werke zu gehen, es sei doch alles von der Bundesrepublik übergestülpt worden und er habe lediglich den Ausverkauf der DDR organisiert. Zwar entsandte die westdeutsche Seite Berater in alle Bereiche. Doch sie trugen nicht die eigentliche Verantwortung. Und um „nicht in den Verdacht der Voreingenommenheit für den Westen zu geraten“, seien sie „zum Schluss die besseren Ossis“ gewesen, sagt de Maizière. Die „Legende“ von der westlichen Fernsteuerung weist er zurück – um in Kernpunkten dann doch die Grenzen eigener Durchsetzungsfähigkeit einzugestehen: Vereinigung nach Artikel 143 war mit Kanzler Kohl nicht zu machen, angeblich weil er den Zeitverzug durch eine verfassungsgebende Versammlung fürchtete. Und die Eigentumsregelung – das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ wollte die DDR-Seite ursprünglich genau umgekehrt durchsetzen – hält de Maizière für den „genetischen Geburtsfehler“ der deutschen Einheit, der „den Einigungsprozess ziemlich vergiftet“ hat.

Was den Untergang der DDR-Industrie anbelangt, ist Ex-Finanzstaatssekretär Walter Siegert überzeugt, dass „in der Ära Breuel die Privatisierung der volkseigenen Betriebe in unverantwortlicher Weise vorangetrieben“ wurde, so dass „die industrielle Grundlage des Landes weitgehend zerstört wurde“. Wie Siegert ist auch Minister Klaus Reichenbach der Meinung, dass mit dem Konzept von Breuels Vorgänger Detlev Karsten Rohwedder, der am 1. April 1991 von einem RAF-Kommando erschossen wurde, ein „weicherer Übergang“ in die Marktwirtschaft erreicht und „Zigtausend Arbeitsplätze mehr erhalten“ worden wären.

Das Buch beschränkt sich fast ausschließlich auf die Perspektive der damaligen ostdeutschen Protagonisten. Das ist aufschlussreich und bewahrenswert genug. Aber mit neutralem Sachverstand etwa von Historikern oder anderen Wissenschaftlern werden ihre Aussagen nicht konfrontiert. Ein objektives Urteil über das, was sie leisteten und was nicht, was der Prozess der Einigung der Geschichte vielleicht schuldig blieb, kann und will das Buch nicht abgeben.

Ed Stuhler: Die letzten Monate der DDR. Ch. Links Verlag, Berlin 2010, 247 Seiten, 19,90 Euro.

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