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Berliner Philharmoniker: Das Golden Goal von Kiew

Schon auf CD: Simon Rattles Renaissance beim Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker.

Die Sache schien sich zu einer echten Krise auszuwachsen. Nicht im Sinne des künstlich entfachten Streits um den „deutschen Klang“, den Simon Rattle angeblich bei den Philharmonikern zerstöre – das Orchester spielt unter seinem Chef fantastisch, technisch brillant, stilistisch wendig, mit einem unverwechselbaren, aus der Tradition mitdenkenden Musizierens entwickelten und von den vielen jungen Leuten im Orchester getragenen Sound des 21. Jahrhunderts. Nein, die Krise betraf Rattle ganz allein: Auf einmal wollten ihm gerade jene Stücke nicht mehr gelingen, auf deren innovativen Interpretationen sich sein Ruf als aufregendster Dirigent seiner Generation gründet.

Im vergangenen Februar fand ein Haydn-Festival in der Philharmonie statt, von allen Fans vorfreudig erwartet. Hatte doch Rattles geistreicher Zugriff auf die Sinfonien einst den Ausschlag für seine Berufung nach Berlin gegeben. Doch die Stücke rauschten vorbei, makellos gespielt, aber ohne den hintergründigen Witz, ohne die tausend kleinen Überraschungseffekte früherer Aufführungen. Zur Riesenenttäuschung geriet auch die Serie mit Spätwerken von Gustav Mahler Ende Oktober/Anfang November, die dann beim New-York-Gastspiel wiederholt wurde: Selbstverständlich organisierte Rattle das komplexe musikalische Geschehen souverän, doch die Seele derer, die seinen Weg schon länger lauschend verfolgen, wurde diesmal nicht berührt. Die Rezensionen waren harsch: „Ein Gesicht, ein Eigengewicht, eine Geschichte oder gar: ein Lot kennt diese Musik nicht“, hieß es, von „nur sporadisch gleißend aufflackernder Interpretation“ und „fehlender Tiefenspannung“ war die Rede.

Blass und wenig inspiriert wirkte er auch bei der Präsentation der Saison 2007/08. Von seinem Charme, mit dem er sonst in Sekundenschnelle die Presse entwaffnete, keine Spur. Sollten dies Zeichen einer Midlife-Crisis sein, fragte man sich bang? Ist Rattle ausgebrannt? Er wird am 19. Januar 53 Jahre alt, steht seit über drei Jahrzehnten auf dem Podium.

Wer sich mit diesen Gedanken beschwert zum Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker aufmachte, verließ den Saal beglückt, erleichtert und freudestrahlend wie selten. He is back! Da waren sie wieder, Rattles Vitalität und Neugier, die man so lange schmerzlich vermisst hatte, da verströmte er erneut eine Energie, die tote Partituren aufwecken kann. Das freudige Ereignis ist – der geschäftstüchtigen Plattenfirma EMI sei Dank – jetzt auf CD nachzuhören.

Alexander Borodin war nicht der beste Komponist des „mächtigen Häufleins“ im Russland des späten 19. Jahrhunderts, seine zweite Sinfonie von 1876 ist eher kompositorische B-Ware. Doch wenn der auswendig dirigierende Rattle den ungelenk gegeneinandergeschnittenen Stimmungen einen Spannungsbogen gibt, den Episodenreigen effektsicher ausreizt, als wär’s ein Soundtrack für „Krieg und Frieden“, dem Werk prickelnde Dynamik verleiht, dann ist er wieder dieser „Abenteurer der Musik“, wie Nicholas Kenyon seine im Henschel Verlag erschienene Rattle-Biografie genannt hat. Der Hörer wird auch bei den „Polowetzer Tänzen“ förmlich im Musikstrom mitgerissen, erlebt den kreativen Prozess ganz ohne Distanz zu „denen da oben auf der Bühne“.

In den „Bildern einer Ausstellung“, diesem tausendfach abgenudelten Repertoire-Hit, vermählt Rattle Modest Mussorgskis Wucht und Furchtlosigkeit mühelos mit der intellektuellen Eleganz seines Bearbeiters Maurice Ravel: Der „Gnomus“ wird zur feinen Tuschezeichnung, „Das alte Schloss“ strahlt eine Ruhe aus, in der Kraft liegt, ganz duftig erscheinen die „Tuilerien“ – und so fort bis zum „Großen Tor von Kiew“, das bei allem Orchesterpomp nie grell wird, sondern in diesem gleißenden Fortissimo erstrahlt, das Simon Rattle in seinen besten Momenten zu erzeugen vermag.

Ein Orchester wie die Berliner Philharmoniker – das wird auf dieser CD einmal mehr evident – braucht niemanden, der die Musiker motiviert. Sondern jemanden, der sie inspiriert. Der Dirigent soll hier kein absolutistischer Herrscher über die Klangmassen sein, sondern koordinierender primus inter pares für eine Vollversammlung von klugen Köpfen. Im Idealfall wird der Maestro zur Muse der Musiker – und küsst die Lust dieser starken Individuen wach, ihre solistischen Fähigkeiten im kollektiven Zusammenspiel zu bündeln. So wie zu Silvester.

Anfang Februar wird Simon Rattle mit den Berlinern einen Beethoven-Schwerpunkt setzen, die 2., 3., 6. und 8. Sinfonie auf Kompositionen von Anton Webern treffen lassen. Rattles Beethoven war bislang stets eine spannende Reise ins Innere der Wiener Klassik, auf CD mit den Wiener Philharmonikern wie live in der deutschen Hauptstadt. Die Pulsfrequenz bleibt erhöht.

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