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Konzertkritik: CocoRosie: Mit der Flüstertüte im Klangzauberwald

Zwischen Operette und Kindergeburtstag: Im brechend vollen Astra spielen CocoRosie mehrheitsfähige Minderheitenmusik

So schräg kann Popmusik heutzutage gar nicht sein, um nicht doch irgendwo mehrheitsfähig zu werden. Zum Beispiel CocoRosie: Die Schwestern Bianca und Sierra Casady erschaffen mit wechselnden Begleitern ein hochneurotisches Paralleluniversum mit japanophilem Kinderlieder-Operetten-Electronica-Freak-Folk, dessen stilistischer Artenreichtum im Grunde jede Konsensbildung vereiteln sollte. Doch ihr diesjähriges Konzert musste nicht nur kurzfristig vom Lido in das mehr als doppelt so große Astra verlegt werden, der Laden ist mit weit über 1000 Zuschauern auch noch brechend voll.

Das Duo hat die aktionistischen Beatboxer der letzten Tourneen wieder ausgeladen und setzt jetzt auf lyrischeres Begleitpersonal: Zwei gutaussehende junge Herren bearbeiten feinfühlig und arbeitsteilig Klavier, Bass und ein aus Plastikkanistern, Ofenrohren und Bratpfannen bestehendes Schlagwerk. Dazu gesellt sich allerlei Gezirpse und Gesummse aus dem Sampler, das Schnarren und Tröten von Gimmickinstrumenten wie Kazoo oder Flüstertüte und Sierras beherztes Harfengezupfe. So entsteht ein von suggestiven Rhythmen unterwanderter, tropisch verdichteter Klangzauberwald, der in seinem organischen Werden und Vergehen immer wieder einzelne Zuschauer zu kleinen Tierstimmenimitationen animiert.

Über allem schwebt der Gesang der Schwestern, der unterschiedlicher kaum sein könnte. Sierra singt die erratischen Melodien oft mit einem vollen Alt, der durchaus musicaltauglich wäre, oder zumindest eine gute Musicalparodie abgeben würde. Biancas Stimmbänder hingegen erzeugen ein gepresstes, flaches Krächzen, oft dem tonlosen Winseln einer gequälten Kreatur ähnlicher als menschlichem Gesang. Und doch liegt eine eigenartig berührende Schönheit in dieser Anti-Stimme, die immer wieder spontanen Jubel hervorruft.

Nach anderthalb Stunden erfolgt die erste Vertreibung aus dem Bonsai-Paradies von CocoRosie, aber die Band lässt sich noch zweimal zurück auf die Bühne bitten: Erst betören sie mit einer launischen, aber angemessen kitschigen Interpretation der Boyz-II-Men-Ballade „It‘s so hard to say goodbye“ und einem überraschenden Geburtstagsständchen für Sierra. Bei der zweiten Zugabe belegt eine kathartisch groovende Rap-Folk-Wucherung, dass die Musik von CocoRosie in all ihrer Absonderlichkeit sehr wohl konsensfähig ist. Zumindest in Zeiten wie diesen.

Jörg W, er

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