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Konzertkritik: Living Colour im Lido

Manchmal weiß man nicht, ob der Sänger kreischt oder die Gitarre, was aus den Instrumenten kommt, was aus den Rechnern. Nach über zwei Stunden Living Colour ist man total geschafft von so viel Energie, Lautstärke und Nikotin in der Luft.

Schon vor dem Hauptprogramm geht es mächtig los: mit einem langen schwarzen Sänger und Gitarristen, der sich Lord Bishop nennt, und in explosiver Trio-Formation mit hämmerndem Rock-n-Roll-Punk das Kreuzberger Lido aufmischt und in eine wabernde New Yorker Rockhöhle verwandelt. Wie vielleicht einst das CBGB's. Dann kommen Living Colour, die vor etwa zwanzig Jahren in jenem CBGB's, als erste komplett schwarze Hardrockband, Mick Jagger auf sich aufmerksam machten: mit ihrer sensationellen Mischung aus Rock 'n' Roll, Funk, Heavy Metal, Jazz und Gesellschaftskritik.

Jagger produzierte ein Demo und besorgte einen Plattenvertrag. Mit drei vorzüglichen Alben machten sie Furore bis 1995. Dann war die Luft raus. Jetzt vibriert sie wieder, als die seit 2001 wiedervereinten Living Colour zu tosendem Jubel auf die Bühne des Kreuzberger Clubs kommen. Vernon Reid hat seine langen Filzzöpfe abgeschnitten oder unter dem Ballon seiner Mütze versteckt. Er stöpselt seine Parker-Dragonfly ein und lässt quietschend orgelnde Obertöne ins schwitzende Auditorium fliegen. Das ist schwerer metallhammerharter Rock 'n' Roll, präzise nach vorne geknüppelt von der exquisiten Rhythmusgruppe Will Calhoun und Doug Wimbish an Schlagzeug und Bass.

Während Corey Glover mit hochgeschobener Froschaugenbrille auf dem kahlgeschorenen Schädel den heftigen Shouter gibt. Er trägt eine Lederschürze, wie ein Schmied, der nur härteste Eisen dengelt. Rasantes Funk-Geschmackel von Reid durchs Wah-Wah geschüttelt und pedaliert. Durch den Gitarrensythesizer gejagt. Dann wieder schweres Geknatter.

"It's the language that I know" singt Glover, dessen Schürze jetzt wirkt wie eine schusssichere Weste. "Burned Bridges" mit Wahnsinnstrillern auf der verzerrten Gitarre. Und wieder eine knurrige Heavy-Metal-Nummer. Hendrix-Led-Zeppelin-Erinnerungen - messerscharf, edelstahlgehärtet. Reid flattert mit den Fingern übers Griffbrett, lässt die Gitarre durch alle möglichen Tonarten und verdrehte Rhythmen wiehern. Dazwischen nur ein kurzer Augenblick zum Luftholen. Da ist die Luft im Saal längst verbraucht, zugequalmt von unzähligen Zigaretten. "Flying" klingt wie eine durchgedrehte Country-Funk-Ballade. "Bi" vom dritten Album wie melodischer Soul-Funk, mit einem Bass-Solo, das mit jaulend hohen synthetisierten Tönen zum Gitarrensolo mutiert. Zwischendrin fünfzehn kurzweilige Minuten Solo-Eskapaden des Drummers: mit Electronica-Einsprengseln, Sequenzer-Figuren, Feuerwerk und Funkenflug aus bunt wirbelnden Glimmer-Stöcken.

Reid und Wimbish tippen in ihre aufgeklappten Laptops: Hundegebell, Möwengeschrei, ganze Orchester, bizarre Effekte. Manchmal weiß man nicht, ob der Sänger kreischt oder die Gitarre, was aus den Instrumenten kommt, was aus den Rechnern. Am Ende bestätigen sich die Songs der ersten beiden Alben von vor zwanzig Jahren erneut als zeitlose Klassiker. Machen allerdings auch deutlich, dass gegen "Glamour Boys", "Middle Man", "Cult Of Personality" und "Love Rears Its Ugly Head" die einseitiger in Richtung Heavy Metal gehenden Songs vom neuen Album "Chair In The Doorway" nicht ganz mithalten können. Nach über zwei Stunden ist man total geschafft von so viel Energie, Lautstärke und Nikotin in der Luft. H.P. Daniels

H.P. Daniels

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