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Konzertkritik: Patrick Wolf: Stachelgeier im Trockeneisnebel

Im Astra gibt der britische Folk-Disco-Glamrock-Hedonist Patrick Wolf ein berauschendes Konzert

Wer schneidert Patrick Wolf bloß diese irren Klamotten? Als der 26-jährige Brite die Bühne im Astra betritt, trägt er einen freizügigen Body mit schwarz-weiß-grauem Union-Jack-Muster, dazu einen bizarren Stirnring, der sich wie ein Diadem auf den asymmetrischen Haarschnitt legt. Später führt er mit selbstverständlicher Grazie eine römisch-antike Fantasy-Garderobe inklusive goldbestäubtem Oberkörper vor – aber nicht, ohne sich vorher bis auf einen gesäßfreien Lederslip entblättert zu haben, der auf jedem CSD für Furore sorgen würde. Und ganz am Schluß zeigt er schwarze Kniestrümpfe zu einer gewagten cremefarbenen Kombination aus Hotpants und einem Jackett, das auf den Schultern mit mikadostäbchenlangen Stacheln bewehrt ist.

Auch wenn das Astra nicht ausverkauft ist und der Applaus bei der eigentlich sehr hübsch durchgeknallten Vorband The Deer Tracks – ein Girl-/Boy-Free-Folk-Trio mit singender Säge, Electronics, Klarinette und Gitarre – noch recht verhalten bleibt, werden Patrick Wolf und seine vierköpfige Band mit enthusiastischem Jubel begrüßt. Für viele ist dies offenbar nicht das erste Patrick-Wolf-Konzert, aber auch als Novize ist man schnell dabei.

Der furchtlose Stileklektizismus findet in der Musik seine Entsprechung. Da trifft das Balkan-Gefidel der wunderbaren Violinistin Victoria Sutherland auf schweres Hardrock-Getrommel des tapferen Marcello Vig, der die knapp zwei Stunden trotz massiver Rückenbeschwerden durchspielt. Zusammen mit E-Kontrabass und elektronischem Zaubergerät bilden sie das Rückgrat für epische Songs, in denen allerlei verrückter Folk-Krempel, Heavy Metal, Glam Rock, Britpop und Gay-Disco wie im Teilchenbeschleuniger miteinander verschmolzen werden.

Patrick Wolf fuhrwerkt dazu mit genialischer Multitalentiertheit auf Geige, Bariton-Ukulele oder angeberischer Flying-V-Gitarre herum, setzt sich aber auch schon mal für eine Ballade wie das tränentreibende Lamento „The Sun is often out“ allein ans Piano. Zwar kokettiert er mit dem Gestus sexuell ambivalenter Überheblichkeit, der seiner Erscheinung ja auch zu entsprechen scheint, wenn er in vollem Ornat über die Bühne stöckelt. Doch mit wachsender Begeisterung des Publikums lässt er immer häufiger die Masken der Coolness fallen und es bricht eine reine Freude über diese besondere Stimmung durch. Und spätestens bei der unglaublich liebevollen Bandvorstellung besteht keinerlei Zweifel mehr daran, was für ein wahnsinnig sympathischer Kerl das eigentlich ist.

Anlass zur Begeisterung gibt es reichlich: Patrick Wolf ist ein begnadeter Sänger, dessen volltönendes Organ ungefähr zu gleichen Teilen an Jarvis Cocker, David Sylvian und David Bowie erinnert  - und manchmal sogar an Elvis Presley. Die Songs, ob nun fragiler Setzkasten-Folk wie „The Shadow Sea“ oder furioser Hedonisten-Discopop wie „The Magic Position“ gehören zum allerbesten, was in den letzten Jahren aus England gekommen ist. Und eine grandiosere Britpop-Überhymne als „Hard Times“ war vermutlich seit Pulps Meisterwerken „Common People“ und „Disco 2000“ nicht mehr im Angebot.

Bei der letzten Zugabe stampft Patrick Wolf zum technoid bollernden, von Berlins Electroclash-Urgestein Alec Empire mitkomponierten „Vultures“ als Stachelgeier durch den Trockeneisnebel: das angemessen bizarre Schlussbild für ein triumphales Konzert.

Jörg W, er

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