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Konzertkritik: Reiz der Unvollkommenheit: The Felice Brothers im Lido

Nach den drei vorzüglichen Alben der Felice Brothers durfte man gespannt sein auf ihr erstes Deutschland-Konzert. Vielleicht waren die Erwartungen doch zu hoch.

In der Kunst liegt im Unvollkommenen oft die wahre Vollkommenheit. So sind auch in der Musik meistens Platten und Konzerte reizvoller, bei denen es nicht um Perfektion, Glätte, Poliertheit, klinisch reinen Klang oder technische Vollendung geht, sondern um den Ausdruck - um Herz und Seele. Und genau das machte die Felice Brothers aus den Catskill Mountains im Staat New York so herausragend, mit ihren drei außerordentlichen Alben in den letzten zweieinhalb Jahren.

In jedem Song, in jedem Ton war zu spüren: hier geht es nicht um gekünstelte Show, um kalkuliertes Geschäft, um kommerziellen Erfolg. Nein, hier geht es um die Freude an der Musik, wie sie die Brüder Felice und ihre Freunde schon immer gemacht haben. Auf der Veranda ihres Elternhauses auf dem Land, dann auf den Straßen und in der U-Bahn von New York, und schließlich bei den ersten Plattenaufnahmen in einem ehemaligen Hühnerstall. Folk, Country, Blues, Soul, Rock, diese schöne Mischung, die man heute "Americana" nennt. Es geht ums wahre Leben, ums Überleben und all die Mythen aus der amerikanischen Heimat. Teufelgeschichten und Mörderballaden, Hass und Liebe, Unglück, Schicksalsschläge und immer auch unbändige Lebenslust.

Natürlich ist man nach den drei vorzüglichen Alben der Felice Brothers umso neugieriger auf ihr erstes Deutschland-Konzert im Lido. Das könnte doch eigentlich nur noch besser sein als auf Platte. Aber dann waren die Erwartungen vielleicht doch zu hoch, die Enttäuschung umso größer. All das, was man in den letzten Jahren lieben gelernt hat an dieser jungen Newcomer-Band, versinkt binnen anderthalb Stunden im Matsch eines unzumutbaren Klangbreis. In dem alle Hoffnungen untergehen, all die schönen Song-Geschichten, und mit ihnen alle Lässigkeit, alle Entspanntheit, jedes Gefühl. Alles dahin. Keine Balance, keine Dynamik, keine Brillanz. Folk und Country in Heavy-Metal-Lautstärke. Als wollte man die auffallend vielen falschen Töne unterm Lärm begraben.

Der Bassist, heißt es, sei früher reisender Würfelspieler gewesen. Musikalisch erweist er sich heute als dominierender Falschspieler. Ein Fiddler kratzt auf Geige und Waschbrett, schiebt permanent und penetrant die Mütze vor und zurück und den flegelnden Körper über die Bühne wie eine Mischung aus bollerigem Hip-Hopper, Oliver Pocher und Animateur eines Ferienclubs: und jetzt alle Mitklatschen.

Es kracht und dröhnt und quietscht aus den Lautsprecherboxen, ständige Rückkoppelung. Mikrophone fallen aus, das Akkordeon ist zu leise, der Bass zu laut, das Schlagzeug rumpelig.

Vielleicht kann sich die Band selber nicht hören auf der Bühne, vielleicht spielen sie sich deshalb immer wieder in so gruselige Schräglagen. Oder liegt es am Jetlag - es ist ihr erstes Konzert der Europa-Tournee - dass an diesem Abend so wenig Gefühl in der Musik liegt. Dass sie so gar nicht berührt. Auch nicht die eigentlich so reizvolle Stimme von Ian Felice, in der sonst immer ein bisschen vom Geist Bob Dylans mitschwingt. Heute wirkt alles verkrampft, angestrengt verbissen. Und wenn sein Bruder James an Orgel oder Akkordeon mal den Gesang übernimmt, ist da gar keine Stimme mehr, nur noch Gegröle.

So war das nicht gemeint mit dem Reiz der Unvollkommenheit. Den Großteil der Fans scheint's allerdings nicht anzufechten. Sie haben ihren Spaß, tanzen, grölen mit. Andere drehen verzweifelt die Finger in den Ohren. Für sie war es vielleicht die Enttäuschung des Jahres.

H.P. Daniels

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