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Konzertkritik: The Whitest Boy Alive: Alle Macht geht vom Keyboard aus

Der Lounge-Jazz-Falle entronnen: Am Ende schwitzen bei The Whitest Boy Alive im neuen Astra-Club alle.

„Ihr werdet schwitzen“, prophezeit Sänger und Gitarrist Erlend Øye zu Beginn des Auftritts von The Whitest Boy Alive, „wehrt euch nicht dagegen!“ Zunächst klingt das Versprechen des langen und zerbrechlich wirkenden Schlackses ein bisschen großmäulig, auch wenn die Raumtemperatur im rappelvollen Astra, der neuen, etwa 1500 Zuschauer fassenden Konzerthalle im Friedrichshain, rasch ansteigt. 

Vom Stimmungspegel lässt sich das vorerst nicht behaupten. Zwar hat die Band aus vier Wahlberlinern hier ein Heimspiel mit gleich zwei ausverkauften Konzertabenden, aber schweißtreibend ist ihr mit spitzen Fingern gedrechselter Studentenpop auf Anhieb nicht. Für eine gemächliche halbe Stunde möchte man fast den britischen Kritikern recht geben, die den feinmotorisch groovenden Songs das ungeliebte Etikett „Lounge Jazz“ anklebten. 

Wie falsch sie liegen, beweist aber spätestens „Courage“ von der aktuellen Platte „Rules“: In Øyes grenzwertig reduziertes Gitarrenspiel kommt Bewegung, Bassist Marcin Öz greift energisch in die Saiten, Sebastian Maschat trommelt mäandernde Rhythmuspatterns. Vor allem aber treibt Daniel Nentwig mit einer beim 1995er Clubhit „Push Push“ von Rockers Hi-Fi geklauten Keyboardtonfolge die anderen vor sich her. Ein großartiger Hit, der den Laden spontan zum Explodieren bringt und Øyes fast verzweifelt wirkenden Animationsversuche („Lebt ihr noch?“) hinfällig macht. 

The Whitest Boy Alive sind symptomatisch für den Paradigmenwechsel, der seit einigen Jahren im Indie-Pop stattfindet: Nicht mehr die Gitarre ist das bestimmende Instrument, vielmehr geht alle Macht vom Keyboard aus. Mit ihrer musikalisch wie auch modisch an den frühen Achtzigern orientierten Attitüde wäre die Band vor zehn Jahren wohl von jeder Bühne gebuht worden. Im Hier und Jetzt ist ihr retromoderner Zitatpop der letzte Schrei. Es hilft natürlich, dass The Whitest Boy Alive clevere Archivplünderer sind. Immer wieder ertappt man sich dabei, bestimmte Melodiebögen, Beats oder Arrangement-Ideen großen Momenten aus 40 Jahren Dancefloor-Geschichte zuzuordnen: Da treffen Roxy Music auf Technotronic und die Sugarhill Gang auf die Disco-Phase der Rolling Stones, werden aber allein schon durch Øyes unverkennbar schwerelosen Gesang in den identitätstiftenden Bandsound überführt. 

Und der entfaltet sich immer prachtvoller. The Whitest Boy Alive ziehen ihren Auftritt wie ein gutes DJ-Set auf: lassen die Songs ineinander laufen, drehen am Pitchregler. Ihren ausgewachsenen Indie-Hit „Burning“ vom ersten Album inszenieren sie wie einen gelungenen 12-Inch-Remix: In die zehn rauschenden Minuten integrieren sie ein Zitat von The Prodigys „Out of Space“ und einen liebenswerten Instrumententausch im Dunkeln. 

Zum kollektiven Tumult gerät die Zugabe: Bei „Dreams“ darf erstmal die (sehr gute) Vorband The New Wine an die Instrumente und legt dabei eine rührende Konzentration und Aufgeregtheit an den Tag, ehe die vergleichsweise routinierten Whitest Boys sich dazugesellen. Erlend Øye, dessen lustige Popperfrisur inzwischen aussieht, als ein ein derangiertes Damentoupet auf seinem Kopf gelandet, amateurrappt über die Abenteuer des Tourlebens rund um den Globus, woraus sich fast zwangsläufig eine Kraut-und-Rüben-Coverversion von Daft Punks „Around the World“ ergibt. Die Euphorieeruption über diesen Song rückt nochmals die Verhältnisse zurecht: Er ist größer als alles von The Whitest Boy Alive. Noch. Denn Erlend Øye hat Wort gehalten: Nach eindreiviertel mitreißenden Stunden sind alle durchgeschwitzt.

Jörg W, er

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