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Tocotronic

© Universal/Jutta Pohlmann

Neuerscheinung: Rebellion, nein danke!

Tocotronic zerstören auf ihrem neuen Album „Kapitulation“ die Lebenslügen des Rock’n’Roll.

Kapitulation. Sechs Silben, die zur Tonleiter werden: Ka-pi-tu-la-ti-on. Der Sänger zerdehnt sie genüsslich, er fügt ein beschwingtes „O-ho-ho“ hinzu, die Gitarren fiepen fröhlich, ein Chor steigt ein. Rock’ n’ Roll gilt gemeinhin als Medium der Rebellion, ganze Legionen von Musikern haben in den letzten fünfzig Jahren zum Kampf aufgerufen: gegen die Älteren, die Angepassten, die Uncoolen. Hier aber wird zum endgültigen Rückzug geblasen. Feuer einstellen, die weiße Fahne raus. Und es klingt verdammt sexy. „Die Stars in der Manege / Sie kapitulieren / Alle die, die Liebe suchen / Sie müssen kapitulieren / Alle die, die Liebe finden / Sie müssen kapitulieren / Alle, die disziplinieren / Sie müssen kapitulieren.“

„Kapitulation“, das ist der Titelsong des neuen Albums von Tocotronic, das am Freitag erscheint. Andere Stücke heißen „Mein Ruin“, „Verschwör dich gegen dich“, „Harmonie ist eine Strategie“ oder „Sag alles ab“. Hymnischer ist das Scheitern in deutscher Sprache noch nicht besungen worden, und paradoxerweise hört sich das Album dabei so ausgelassen, heiter und mitreißend an, dass es schon jetzt zu den herausragenden Pop-Platten des Jahres gezählt werden muss. Lustvoll werden die Lebenslügen des immer hohler gewordenen Rock’ n’ Roll-Zirkus – der Missionsdrang, dröhnende Selbstgerechtigkeit und generelles Dagegensein – auseinandergenommen. Und aus den Trümmern entsteht wunderbarer, von zwei bratzigen Gitarren, schnarrendem Bass, trockenem Schlagzeug und einer sonoren, dunkel gefärbten Gesangsstimme angetriebener Rock’ n’ Roll.

"Die allgemeine Verkumpelung ist etwas, das uns wahnsinnig stört"

„Glanzvoll, mit wehenden Fahnen unterzugehen“, das sei, sagt Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow im Gespräch mit dem Tagesspiegel, derzeit für eine Band vielleicht die letzte noch mögliche Form der Selbstbehauptung. „Wann immer man von etwas hat lesen können, ,das rockt total’ oder es sei ,der totale Rock’, kann man sicher sein, es handelt sich um die angepassteste Kulturform schlechthin.“ Das Mittel der Provokation hat sich verbraucht, auch der Ironie, auf die die Hamburger Band bei den Alltagsbeschreibungen ihrer Anfangsjahre gerne zurückgriff, ist sie längst überdrüssig, bedeute sie doch – so von Lowtzow –, „dass in Wahrheit alles gar nicht ernst gemeint ist“. Tocotronic meinen es aber ernst. Die Texte sind ein Strom aus Gedanken, Bildern und Abschweifungen, in den schillernde Begriffe wie „Donnerhall“, „Fanal“ oder – ausgeliehen vom Befreiungstheoretiker Wilhelm Reich – „Orgon-Energie“ als Widerhaken eingestreut sind.

„Die allgemeine Verkumpelung ist etwas, das uns wahnsinnig stört“, erklärt Dirk von Lowtzow. Er setzt stattdessen auf „die Kraft der Negation und der Absonderung“. „Kapitulation“, das achte Studioalbum seiner Band, feiert die Niederlage, um die kernige Männlichkeit, wie sie in der Rockmusik vorherrscht, zu unterminieren. Nichts hasst von Lowtzow mehr als den Fetisch „Authentizität“, den Anspruch, mittels Kunst das eigene Selbst bekenntnishaft auszudrücken. Das Gegenlied dazu heißt programmatisch „Wir sind viele“, es ist eine aus flirrenden Rückkopplungen modellierte Ballade mit den Zeilen „Wer ,Ich’ sagt, hat noch nichts gesagt“ und „Wir sind viele / Jeder einzelne von uns“.

Live Earth? Dirk von Lowtzow hält Protestpop für eine Farce

„Kapitulation“, im Titel verbrüdern sich Pathos und Politik, er soll, so von Lowtzow, ein „Schlag ins Gesicht derjenigen sein, die von Optimismus und neuem patriotischem Selbstbewusstsein faseln“. Die Band hat ein hochgestochenes „Manifest“ zur Platte veröffentlicht, eine nebulöse Selbstbeweihräucherung, die „Kapitulation“ „das schönste Wort in deutscher Sprache“ nennt und mit „ein Zerfall, ein Fall, eine Befreiung, eine Pracht, eine Hingabe“ übersetzt. Das Manifest, erst nach Fertigstellung des Werks entstanden, ist eher ein PR-Gag. „Schön, wenn einem die Leute auf den Leim gehen“, sagt der Sänger.

Am 8. Mai 2005, dem 60. Jahrestag der deutschen „Kapitulation“, haben Tocotronic auf dem Berliner Alexanderplatz vor fast zehntausend Zuschauern ein GratisBenefizkonzert „gegen Geschichtsverklärung und deutschen Opferwahn“ gegeben. Für einen Sampler der Antiglobalisierungsaktivisten von „Attac“ ließen sie ihre Hymne „Aber hier leben, nein danke“ remixen. Von den Großveranstaltungen des Protestpop halten sie sich trotzdem fern. Beim Anti-G-8-Festival in Rostock sind sie aus Termingründen nicht aufgetreten, und „weil wir keinen Bock hatten, neben Herbert Grönemeyer auf der Bühne zu stehen, das wäre einfach stillos“. Mit weltweiten Mammutkonzerten gegen die Klimakatastrophe anzumusizieren, wie es auf Initiative von Al Gore am kommenden Wochenende geschieht, findet von Lowtzow ohnehin „farcehaft“. Den Anspruch, eine „politische Band“ zu sein, würde der Sänger niemals für Tocotronic erheben. Er will der „Falle der Repräsentanz“ entgehen und „weiß auch gar nicht, was das genau sein soll, politische Kunst“.

Ähnlich vielschichtig wie das letzte Album

Begonnen hat die Geschichte von Tocotronic, als der aus dem Schwarzwald stammende Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow 1993 in Hamburg den Bassisten Jan Müller und den Schlagzeuger Arne Zank kennenlernte. Ihre erste Single nahmen sie in Punkmanier auf einem Kassettenrekorder auf, bald gingen sie mit Blumfeld auf Tour, veralberten die eigene Newcomerrolle im Song „Wir sind neu in der Hamburger Schule“ und lieferten mit ihren Platten Slogans wie „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. Sie wurden nicht nur Teil, sondern gleich Leitfiguren einer Jugendbewegung, die mit einem Habitus aus Trainingsjacken und Second-Hand-T-Shirts einen Modetrend setzten. Ihrem Image der oberschlauen Studentenkapelle versuchten sie mit dem 2002 erschienenen Doppelalbum „Tocotronic“ zu entkommen, einem sperrigen Werk, in das sie zwei Jahre Arbeit investiert hatten. 2005 kam die CD „Pure Vernunft darf niemals siegen“ heraus, seither gehört der englische Gitarrist Rick McPhail mit zur Band.

Die Tocotronic-Texte ließen auf „Pure Vernunft darf niemals siegen“ den früheren 1:1-Realismus weit hinter sich. Es gab Ausflüge in die Naturlyrik, die Singleauskopplung „Gegen den Strich“ erwies dem Dekadenzliteraten Joris-Karl Huysmans eine Reverenz. Auf „Kapitulation“, das wieder mit dem Produzenten Moses Schneider in einem Berliner Studio eingespielt wurde, wirken die Metaphern ähnlich vielschichtig. Bei Stücken wie „Dein geheimer Name“ oder „Aus meiner Festung“ hat man sogar den Eindruck, dass es hinter den Worten noch eine zweite Bedeutungsebene gibt, in die nur eintreten kann, wer die Anspielungen versteht. Die Prinzen („Entschuldigung, das habe ich mir erlaubt“) werden zitiert, die Weltverbesserungs-Stoßgesänge der Bots aus den achtziger Jahren („Alle, die gegen Atomkraftwerke sind, sollen aufstehn“) feiern in der finalen Litanei des Titelsongs eine Auferstehung.

Wenn es nach dem Sänger ginge, könnte man sich die Interpretation der Platte sparen

Von derlei Exegese hält Dirk von Lowtzow nicht viel. Der Sänger, der übrigens Bob Dylan verachtet („steht für unglaubliche Wichtigtuerei“), aber Neil Young liebt („weil es so schön doof ist“), sagt: „Ich bin kein großer Freund der Interpretation, weil ich finde, damit kommt man nicht weit.“ Statt die Worte ergründen zu wollen, solle man ihnen lieber „folgen wie einem Bach, in den sich Stimmen und der Gesang von Vögeln mischen“.

Nach dem Ende von Blumfeld sind Tocotronic zur tonangebenden deutschen Popband aufgestiegen. Mit „Kapitulation“, einem reifen Werk, lösen sie die hohen Erwartungen ein. Wie lange wird es die Gruppe noch geben? „Ich bin kein Prophet und kann nur in Floskeln antworten“, verkündet Dirk von Lowtzow: „Bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus.“

Tocotronic: „Kapitulation“ (Universal)

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