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© V2

Neues Album: Phoenix: Weiße Jungs können tanzen

Phoenix aus Versailles krempeln die Popmusik um mit ihrem Album "Wolfgang Amadeus Phoenix".

Es muss vermutlich viel passieren, damit Hellmuth Karasek, Literaturkritiker und geschätzter ehemaliger Tagesspiegel-Herausgeber, für den „Rolling Stone“ schreibt – über Musik. Genauer: über Popmusik, die er nach eigenen Angaben nicht versteht. Aber das macht nichts. Denn was unter dem Titel „Mein Neffe, der Popstar“ im Hochamt des Rockjournalismus zu lesen ist, stellt sich als rührende Familiengeschichte dar. In ihr kommen neben Popstar Thomas Mars auch alle anderen Phoenix-Mitglieder, Karaseks Schwester, seine Tochter und Francis Ford Coppola vor sowie ein Junge, der in Versailles über den Zaun eines herrschaftlichen Anwesens geklettert, vom Gärtner geschnappt und wieder hinausgeworfen worden war und sich gedemütigt geschworen hatte, das Grundstück einmal zu besitzen.

Es ist eine glückliche Geschichte, die Karasek erzählt: Der Junge von damals behielt recht. Er kaufte das Haus, in dem schon Eisenhower residiert hatte. Und einiges von dieser Zielstrebigkeit wird er an seinen Sohn Thomas weitergegeben haben, der viel, viel später in demselben Garten eines seiner ersten Konzerte gab. Es ist aber auch deshalb eine glückliche Geschichte, weil aus der einst namenlosen Schülergruppe eine der interessantesten Formationen der in Retro-Sounds versinkenden Popkultur hervorgegangen ist: Phoenix. Das Quartett, zu dem außer Mars die beiden Gitarristen und Brüder Laurent Brancowitz und Christian Mazzalai sowie Deck A’Arcy am Bass gehören, bedient sich so unterschiedlicher Quellen wie Funk, Hardrock, Disco und Synthiepop. Aber heraus kommt keine der üblichen postmodernen Referenzhöllen, die an den Nahtstellen der einzelnen Versatzstücke unangenehm knirscht. Sondern ein luftig-schwebender Gitarren-Pop, federnd und klar, der seine indiemäßige Schluffigkeit mit emphatischen Melodien aufwiegt. Drei Mal sind sehr hörenswerte Alben daraus entstanden.

Jetzt veröffentlichen Phoenix ihr viertes mit dem bildungshubernd bescheuerten Titel „Wolfgang Amadeus Phoenix“. Und der ist auch nicht dadurch zu entschuldigen, dass die Musiker einen für eine französische Band überdurchschnittlich hohen Anteil an deutschen Müttern vorweisen können. Denn Phoenix sind so französisch, wie es Bürgersöhne aus dem Pariser Villenvorort nur sein können. Dazu gehört, in ihrer naiven Verehrung für anglo-amerikanische Stile oft Dinge zu tun, die sie selbst nicht verstehen. Ihr größter Hit hielt die eigene Ratlosigkeit fest mit den Worten: „Everything means everything/I can’t understand a word/Half of the stuff I’m sayin’.“ Dass sie ihren Schlagzeuger zum Sänger machten, trug nicht eben zur klassischen Formbildung bei. Denn seither hat Phoenix keinen Drummer mehr. Manchmal leihen sie sich einen; oder eine Maschine übernimmt diesen Job, was der Musik von jeher einen starken Zug ins Serielle gibt und sie auch jetzt wieder ungemein tanzbar macht. Darüber verlieren die Liedtexte ihr Gewicht. Mars sagt ohnehin, Worte müssten zu den Akkorden passen.

„Lisztomania“, das Auftaktstück des neuen Albums, ist deshalb auch nur ein Assoziationsraum. Franz Liszt sei der „größte Rockstar seiner Zeit“ gewesen, sagt Mars, aber erklären tut das nichts. Denn wie in diesem Song, so geht es in fast allen um die Einsamkeit von Menschen, die nicht alleine sind. Sie sitzen in einem Auto, das in „Rome“ am Colosseum vorbeikurvt, und stellen sich Fragen wie: „Welcher Junge hat dir am besten gefallen?“ Es geht um das Jahr 1901 und eine Liebe, die „wie ein Sonnenuntergang“ ist. Düster müsste man Lieder wie „Fences“, „Countdown“ oder „Lasso“ nennen, wenn sie nicht mit perlender Frische daherkämen. Man kann Pop mit so bescheidenen Mitteln eigentlich nicht besser machen (obwohl auch Whitest Boy Alive dem Ideal des lupenreinen „weißen Funk“ derzeit sehr nahekommen). Denn es erblüht hier eine Musik, die sich ihrer Inhalte zwar entledigt hat, die entleert ist, aber gerade deshalb die widerstreitenden Kräfte des Pop, seine Projektionen und Lebensentwürfe, zwanglos zusammenspannt. Atemberaubend die Antidramaturgie der Songs, die den Refrain eher verschluckt als ausstellt. Das Lied tritt auf der Stelle, bevor es weitergeht im Text.

Höhepunkt dieses Understatements ist ein sperriges, instrumentales Hörbild, das den 36-minütigen Parforceritt nach der Hälfte abstoppt. „Entweder die Songs waren großartig“, sagt Mars, „oder wir haben sie ruiniert.“ Die Musik ist da draußen, man muss sie nicht verstehen.

Phoenix spielen am heutigen Mittwoch im Berliner Berghain (ausverkauft).

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