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Phaedra

© DAVIDS/Hilse

Oper: Vordringen zur Sterblichkeit

Versinken im unverwandten Blick: Hans Werner Henzes Oper „Phaedra“ als Uraufführung an der Berliner Staatsoper erzählt von der Unmöglichkeit der Liebe und der Schönheit des Todes.

Diese Oper hat das Ohr an der Unterwelt. Mystisch-mephistophelische Schattenwesen, badekappenbemützt und in Neoprenschläuchen steckend, huschen durch den Saal, Lichter kreisen, splittern, tänzeln, das Orchester thront ausnahmsweise hinten im Parkett, das Publikum darf sich in einem bühnenfüllenden Spiegel selbst betrachten, ein Spuk, das Ganze, ein knapp 90-minütiger Schnappschuss – und die Musik hält es bei aller Grazie, allem arkadischen Leuchten sicher gern mit Wolfgang Wagner (auch wenn sie nichts davon weiß). Der 88-Jährige nämlich, heißt es, folge derzeit ganz dem Überlebensmotto seines alten Hundes, das da lautet: radikal Energie sparen.

Mit dem Überleben hat sich Hans Werner Henze, 81, seit jeher zu plagen gewusst. Seine Flucht aus der deutschen Adenauer-Kälte in die Milde des italischen Südens, das Ausgegrenztsein aus der Avantgarde der sechziger Jahre, das politische Engagement, seine Erfolge gerade in der ach so verderbten Kunstform Oper, schließlich die strahlende Rückkehr des verlorenen Sohnes in die Musentempel und Institutionen auch nördlich der Alpen, Ämter, Ehrungen, Preise – alles Zweifelslagen, ja Prüfsteine für ein westfälisches Gemüt wie das seine.

Und immer öfter das gleiche Bild: Der alternde Komponist, eine zunehmend buddhaeske, sich mit dem eigenen Körper wie mit mythischen Stoffen („Venus und Adonis“, „L'Upupa und Der Triumph der Sohnesliebe“) gegen alle Wirklichkeiten panzernde Gestalt. Der alternde Komponist und wie er mit fürstlicher Grandezza ins Publikum grüßt – im Münchner Nationaltheater, im ehedem kleinen Salzburger Festspielhaus, in Luzern und nun eben auch in der Berliner Staatsoper bei „Phaedra“, seiner 14. Oper – aus der Königsloge, versteht sich. Und restlos alle erheben sich. Auch diesmal.

Das Stsück erforderte Geduld mit dem Tod

Ein rührendes, ein Ehrfurcht gebietendes Bild. Der alte Mann und der Abschied. Der alte Mann und seine vielen letzten Male. Kein anderes Stück hat Henze dem eigenen Überleben so abgetrotzt, ja abgekämpft wie diese Konzertoper für fünf Sänger und 23 Instrumentalisten. Kein anderes Stück hat ihm solche „Geduld mit dem Tod“ abverlangt (wie Henzes Librettist, der Lyriker und Pastor Christian Lehnert, die Liebesgöttin Aphrodite sagen lässt). Ein existenzieller physischer Zusammenbruch zwischen erstem und zweitem Akt („der Sarg war schon bestellt“), der Tod seines Lebensgefährten Fausto Moroni, kaum dass die Partitur vor fünf Monaten abgeschlossen war: Wie Kunst und Leben sich bisweilen durchdringen, das hat Henze hier in ganz anderer Weise erfahren müssen als bei früheren Krisenstücken (beispielsweise beim „Floß der Medusa“). Und der Verdacht des Eskapismus, der musikalischen Weltflüchtigkeit liegt naturgemäß näher denn je.

Da ist zunächst der Stoff, der von nichts anderem handelt als von der Unmöglichkeit der Liebe und der Schönheit des Todes. Vergleichsweise frei nach Euripides und Ovid (ein bisschen auch nach Racine, Schiller und Sarah Kane) erzählen Lehnert und Henze die Geschichte der kretischen Königin Phaedra, Gattin des Minotaurus-Bezwingers Theseus, die sich in ihren Stiefsohn Hippolyt verliebt und dessen Verweigerung mit einer Intrige straft, woraufhin ein theatralisch den Meereswogen entsteigender Stier ihn zu Tode schleift. Phaedra selbst erhängt sich, und Hippolyt wird von der Jagdgöttin Artemis nach Italien verbracht, an den Nemi See (unweit des Henzeschen Anwesens südlich von Rom!), wo sie ihm neues Leben einhaucht. Göttliche Hybris als letzter heidnischer Trost?

Den Stoff fand Henze also gewissermaßen vor der eigenen Haustür, und die auratische Dichte und Leichtigkeit seiner latinischen Lebenslandschaft sind es auch, ihre Farbenpracht, ihr Duft, ihre Melancholie, die einem hier musikalisch entgegenwehen. Ein Stück klingende Autobiografie, das Dokument eines programmatischen Versinkens im unverwandten Blick. Handwerklich bedeutet dies: ein Saxophon für Hippolyt (konzentriert: John Mark Ainsley), ein Horn für Phaedra (expressiv: Maria Riccarda Wesseling), ein Englischhorn für Artemis (Axel Köhler) und eine Posaune für Aphrodite (hervorragend: Marlis Petersen) – nur vier der 23 Musiker des vorzüglich kenntnisreich spielenden Ensemble Modern unter Leitung von Michael Boder sind Streicher, der Rest verlangt doppelte Bläser, außerdem Harfe, Celesta und Klavier sowie ein reiches, teils exotisches Schlagwerk nebst elektronischem Zuspielband. Fabelhaft glitzernd instrumentiert, das Ganze, nahezu schwerelos.

Henze, der genuine Musikdramatiker

Und eine Besetzung, die Bände spricht. Wie Luftgeister schmiegen sich die Instrumente den diversen Sängerkonstellationen an, allzeit bereit, den Atem ausgehen zu lassen über Phaedras Begierde, Theseus’ hysterischem Entsetzen oder Hippolyts Klage. Röhrenglocken läuten dröhnend seinen Tod ein, und nicht nur bei solch klassisch-apokalyptischem Aufruhr bleibt Henze, der genuine Musikdramatiker, sich treu und aus Überzeugung einem sanft zwölftönigen Wohllaut verpflichtet. Hübsch xanthippisch hingegen Phaedras Häme angesichts des geretteten Hippolyts; und die finale Apotheose des Tanzes („Wir dringen zur Sterblichkeit vor“) ist von einer magisch-silbrigen Schwärze erfüllt.

Bei allen Déjà-entendus des Abends, allen Allusionen an Richard Strauss, Strawinsky, Bach, Messiaen, ja – dank zweier Wagner-Tuben – sogar an Richard Wagner: Diese Partitur bietet eine klare Essenz. Und hat, um mit dem Bühnenbildner Olafur Eliasson zu sprechen, ihren „Fluchtpunkt“ gefunden. Ausgerechnet von Henze eine Neujustierung der Oper zu erwarten, wäre auch absurd gewesen. Eliasson und Regisseur Peter Mussbach indes tragen sich durchaus mit solchen Absichten – und scheitern kläglich.

Gewiss, der Raum, jene zeitweise Verkehrung von Bühne und Saal im Spiegelbild, der Auszug des Orchesters aus dem Graben, der dunkle Steg, der das Parkett teilt und den Sängern als Catwalk dient, Eliassons irisierende Lichteffekte, das Kaleidoskop etwa, das Hippolyts Käfig darstellt – dies alles ist von einer bestechend professionellen, technisch vielleicht sogar visionären Machart. Nur mit dem Stück und seiner Musik hat es partout nichts zu tun. Und daran kann oder will auch Mussbach nichts ändern, der den Protagonisten ein hochprätenziöses, blöde antikisierendes Gestenrepertoire andichtet und sie ansonsten hin und her flitzen lässt. Wer den Tod nicht fühlt, der wird ihn so schnell auch nicht erjagen.

Wieder am 8./9./10.9. – Im Wagenbach Verlag ist Henzes Arbeitstagebuch zu „Phaedra“ erschienen (96 Seiten, 13,90 €).

Christine Lemke-Matwey

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