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Rock: Die Hautfarbe der Musik

Sie hat keine! Oder doch? Über die Krise der Rockmusik und die Frage, warum sie ihre schwarzen Wurzeln gekappt hat.

In sämtlichen Bestenlisten des vergangenen Jahres tauchen sie ganz oben auf: Arcade Fire, das vielköpfige kanadische Ensemble um Sänger Win Buttler und seine Frau Régine Chassagne ist die Band der Stunde, von namhaften Kollegen wie Chris Martin als „großartigste Band aller Zeiten“ bejubelt. Die acht Musiker, die mit „Neon Bible“ das zweite Album veröffentlicht haben, gelten als Protagonisten einer neuen Auffassung von Rockmusik. Ihre Songs atmen Kirchenluft. Alles ist ganz einfach. Eine Phalanx von Violinen, Hörnern, Xylophonen, Chören, von Akkordeon und Orgel lädt die Atmosphäre auf. Es geht um Schuld, Tod und Gewalt - Themen, die mit protestantischer Strenge zu einem „Ocean Of Noise“ – so ein Songtitel – ausgebreitet werden.

Aber irgendetwas stimmt trotzdem nicht. „Nach dem sechsten Song war ich geschafft“, befand der Musikkritiker des „New Yorker“ Sasha Frere-Jones in einem „A Paler Shade Of White“ betitelten Beitrag, nachdem er die Band bei einem umjubelten Konzert gesehen hatte. Sein Fazit: Die Ermüdung ist Symptom für eine Krise der Indie-Musik. Die fortschrittlichste Rockmusik, die es heute gibt, habe ein „racial re-sorting“ durchlaufen, ihre schwarzen Wurzeln gekappt und damit ihre Seele verloren. „Warum“, fährt er fort, „haben sich so viele weiße Rockbands von der exstatisch-singenden Gitarre abgewandt, die die Stimme eines Bluessängers imitierte, wo ist der erdenschwere Downbeat des Reggae abgeblieben und wo die elaborierte Zurschaustellung, die schwarze Musik ein halbes Jahrhundert lang zum Vorbild machte?“

Seit Wochen sorgt Frere-Jones’ Streitschrift in Internetforen für Wirbel. Dass der Autor stark verallgemeinert, polarisiert, dass er willkürlich Bands herausgreift, andere übergeht – geschenkt. Auch den kulturkonservativen Gestus muss man übersehen. Denn der Vorstoß trifft einen wunden Punkt. Lange schon ist das Unbehagen weit verbreitet, dass Rockmusik sich nunmehr auf Rockmusik bezieht. Obwohl sie laut und wild klingt, ist ihre Energie gezügelt, gehemmt. Die Musiker betrachten beim Spielen ihre Schuhe. Oder sie drehen dem Publikum den Rücken zu, obwohl sie nicht mal einen sexy Hintern haben. Es fehlt, was außerhalb des Kanons liegt, den die elterlichen Plattensammlungen aus den sechziger Jahren herübergerettet haben.

„Musik hat keine Hautfarbe“, hat Michael Jackson einmal gesagt. Das stimmt. Musik nach ihrer rassischen Durchmischung zu beurteilen ist gefährlich. Es gibt weder weiße noch schwarze Musik, die sich als solche versteht. Sowohl schwarze Bluesmusiker wie Robert Johnson als auch weiße Country-Sänger bedienten sich desselben Legendenkreises für ihre Geschichten, hatten dieselben Akkordverbindungen, pflegten dasselbe Ritual aus Rede und Widerrede. Von Anfang an fand ein reger Austausch statt. Was black genannt wird, ist eine Zuschreibung – aber mit enormen sozialen und ästhetischen Folgen.

Zu den Urszenen des Pop zählt, wie zwei britische Burschen, die sich flüchtig von den Spielplätzen ihrer Heimatstadt Dartford kennen, 1960 in einem Londoner Vorortzug ins Gespräch kommen. Einer von beiden hat eine LP von Muddy Waters dabei, die damals in England schwer zu beschaffen ist. Der andere hat Singles von Chuck Berry zuhause - und es entstehen die Rolling Stones. Die Begeisterung für obskure schwarze Musiker steht am Anfang einer Kulturgeschichte, die aus weißen Mittelstandkindern die Jugendidole ganzer Erdteile und Generationen macht. Dabei wollten Mick Jagger und Keith Richards anfangs nur Blues spielen. Herausgekommen ist etwas anderes, Mächtigeres, Universelles.

Das war kein Zufall. Alexis Korner, der erste weiße Musiker, der mit Blues sein Geld verdiente, schrieb über Jagger: „Er sprach damals, 1962, mehr über das Gefühl, das die Musik auslöste, und die Art, wie man sie bringen sollte, als über die Musik selbst. Etwas, was damals keiner sonst tat.“ Jagger hatte als behütet aufgewachsener Sohn eines Physiklehrers keinen Zugang zur Armut und Verzweiflung, die der amerikanischen Rassentrennung zugrunde lag und dem Blues seine grimmige Härte verlieh. Für den Wirtschaftsstudenten war Blues nur etwas, das ihn betraf. Der „schwarze Mann“ lieferte ihm die Lösung für seine Adoleszenzprobleme.

So wie Jagger handelten in den kommenden Jahrzehnten die meisten, die sich der schwarzen Kultur bedienten. In seinem Buch „White Bicycles“ schildert Joe Boyd, zu welchen Missverständnissen es dabei kam. Die von ihm Mitte der Sechziger nach England verschifften Bluesmusiker verwahrten sich energisch dagegen, als einfältige und rückständige Traditionalisten wahrgenommen zu werden. Während die Schwarzen Musik immer für ihresgleichen und Weiße spielten, machten die Weißen Musik nur für sich selbst. Andererseits zeigten sich schwarze Musiker beeindruckt von dem, was die Weißen mit ihrer Musik anstellten. Legendär ist, wie Jimi Hendrix 1967 nur drei Tage nach Erscheinen des „Sgt. Pepper“-Albums den Titelsong bei einem Londoner Konzert nachspielte. McCartney, der anwesend war, begriff das sofort als „denkbar größte Huldigung“.

Solche Liaisons Dangereuses haben der Popkultur immer wieder als Evolutionsmotor gedient: Elvis, Motown, The Beatles, Hendrix, Led Zeppelin, The Clash, Michael Jackson, Dr. Dre, Eminem – jedes dieser Kapitel steht für die Kluft zwischen den Hautfarben und ihre Überwindung. Damit ist es offensichtlich vorbei. Für den zeitgenössischen R & B bleibt die junge Rockmusiker-Generation merkwürdig unempfänglich. Dass eine britische Band wie Hot Chip sich auf ihrem zweiten Album, das Anfang Februar erscheint, explizit auf einen R. Kelly-Song bezieht, ist die Ausnahme. Was haben Stevie Wonder und HipHop nur verbrochen, dass sie für weiße College-Kids offenbar nicht attraktiv genug sind, um ausgeschlachtet zu werden?

Dafür gibt es Gründe: Eine Entwicklungslinie in der Popkultur hat sich bewusst von den afro-amerikanischen Wurzeln losgesagt. In Deutschland stehen für diesen Bruch Kraftwerk und Can. In England sind es New-Wave-Pioniere wie Joy Division, deren Schlachtruf lautete: „Welcome to the Ice Age“. Sie hatten sich einem Nihilismus und einer Kälte verschrieben, um sich von der verhassten Kulturindustrie abzugrenzen. Die Folgen dieser Politisierung sind bis heute spürbar. Sie sind für die um interkulturelle Aufgeschlossenheit bemühten Independent-Szene ein schwieriges Erbe. Durch die demonstrative Vermeidung von Entertainment und jeder Anbiederung ans Establishment wurde der Keim für die Ignoranz gelegt, die im jugendlichen Hasskult voll erblühte.

Nicht mehr dazugehören wollten auch die Gangsta-Rapper der Reagan-Ära. Ihre Sage vom zweigeteilten Land, in dem die schwarzen Straßenkids der Abschaum seien, machte es dem politisierten Rock schwer, das alte Bündnis zu erneuern. Zumal der Siegeszug des HipHop die Vorzeichen änderte. Aus der Straßenkultur wurde ein globaler Markt, der denselben Verwertungsmechanismen wie Rockmusik unterliegt und deshalb eben so saturiert ist. Indie-Musiker dürften wenig Sinn darin sehen, sich Stars zum Vorbild zu nehmen, die ein Vielfaches von dem an Geld und Aufmerksamkeit einheimsen, womit sie selbst auskommen müssen.

Am eindrücklichsten verkörpert die Ankunft schwarzer Künstler an der Spitze des Mainstreams das Modell Timbaland. Seit die Benutzung von Samples, fremden Soundsplittern und Melodiefragmenten einem ausgeklügelten Rechtsschutz unterliegt, wagen es immer weniger Künstler, sich das Werk eines anderen einzuverleiben. Die Kosten sind für viele zu hoch. Im Gegenzug sind Musik-Produzenten gezwungen, eigenes Material zu kreieren, was einem Beat-Manufakteur wie Timbaland enorme Einfluss gibt. Da seine „Space Beats“ ihre kulturelle Herkunft nivelliert haben, beliefert er sowohl den schwarzen Mainstream (Alicia Keys) als auch den weißen (Timberlake, Furtado, Spears etc.) mit bollernden Disco-Sounds.

Was immer noch nicht die Ignoranz gegenüber Stevie Wonder erklärt. Aber egal. Denn Schwarzweiß ist längst einer Regenbogen-Koalition gewichen. Im neuen Migrationsgefüge verliert die afro-amerikanische Erfahrung der Entwurzelung ihre Dominanz. Damit geht das Gespür für Grenzen und das Risiko verloren, das es bedeutet, sie zu übertreten. Viele Rockbands vermitteln nicht mehr – so anregend ihre Musik im Einzelfall sein mag – das Gefühl, etwas oder gar sich selbst aufs Spiel zu setzen.

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