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© Tobias Seeliger

Schalmeien-Rock: Zurück nach Mittelerde

Corvus Corax graben alte Lieder aus und verwandeln sie in Partykracher. Am Freitag spielen sie in der Zitadelle Spandau.

Die Armbanduhr heißt bei ihnen nicht Zeiteisen und das Handy nicht Horchknochen. Der Euro wird nicht Taler genannt, die CD nicht Silberling, und sie empfangen einander auch nicht mit Worten wie „Seyed gegrüßt, edler Recke“.

Überhaupt sehen Bernd Dobbrisch alias Venustus Oleriasticus („Wim“), und Karsten Liehm alias Castus Rabensang, die beiden Gründungsmitglieder von Corvus Corax nicht nach mittelalterlich gewandeten Spielleuten aus. Der eine trägt Jeans, der andere Lederhosen, die Haare sind kurz und mit Gel auf Linie gebracht. Und „Marktsprech“ ist eben auch nicht ihr Ding.

Dennoch ist die Berliner Band seit vielen Jahren eine feste Größe in der deutschen Mittelalterszene. Auch in Japan, China, Italien, Ungarn, Österreich und der Schweiz sind die archaisch gekleideten Männer mit ihren selbst gebauten Schalmeien, Dudelsäcken, Drehleiern und Zinken – eine Art Mischung aus Trompete und Blockflöte – gewesen. Ihr Einfluss reicht weit. In Mexiko werden die ekstatisch-tanzwütigen bis romantisch-traurigen Lieder der „Könige der Spielleute“ von einheimischen Musikern mit folkloristischen Maya- und Azteken-Melodien kombiniert. Die Band wiederum nutzt balinesische Becken, japanische Kodo-Trommeln und sogar das tibetanische OM, um ihren Mittelalter- Sound zu verfeinern. Der ist gern sehr laut, von Dudelsäcken in die Höhe gezwirbelt und von „allerlei Schlagwerk“ aufgepeitscht und wird, wie im Disko- Projekt der Band „Tanzwut“, auch schon mal durch elektronische Rhythmen modernisiert. Sie kennen keine Berührungsängste. Orchestrale und chorale Begleitung sowie bombastische Arrangements lassen sie mit der leichten Klassik liebäugeln. Wie bei „Cantus Buranus“, der Neuvertonung der Carmina Burana, mit der die opulent kostümierte Band heute zusammen mit dem Böhmischen Sinfonieorchester Prag, dem Passionata-Chor und Ingeborg Schöpf, Sopranistin an der Staatsoperette Dresden, die Zitadelle Spandau bespielt.

Die Fangemeinde besteht, wie Dobbrisch und Liehm gern betonen, keineswegs nur aus Mittelalterfreaks, die man bei Corvus-Corax-Konzerten in vorderster Front findet und die danach bei Lagerfeuer und „Met“ – nach modernen Rezepten gebraut – ihre eskapistischen Sehnsüchte ausleben. Das Anti-Moderne dieses imaginierten Mittelerde zieht neben dem Sauf- und Raufboldigen der Musik wohl die meisten Fans an: „Viele nutzen unsere Konzerte als Möglichkeit, nach einer harten Woche für einige Stunden in eine andere Welt abzutauchen“, sagt Dobbrisch. Dabei wollen er und seine sieben Bandkollegen den Pfad in diese Traumwelt hauptsächlich über ihre Musik bahnen, nicht über pseudo-mittelalterlichen Mummenschanz wie Ritterspiele, Feuerspucken oder die fantasievollen Gewandungen, die sie gleichwohl tragen. Den krypto-historischen Spektakeln auf den Mittelaltermärkten stehen sie skeptisch gegenüber. Auch was das vermeintlich authentische Speisenangebot betrifft: Mit Sicherheit gab es im Mittelalter keinen Döner und auch Kartoffeln und Hefe waren unbekannt. Und Zucker, „das weiße Gold“, konnten sich nur sehr Reiche leisten. „Vor allem das Bier würde heute keinem Marktbesucher mehr schmecken“, sagt der 43-jährige Liehm lachend.

Zwar sind auch viele der Lieder und Melodien von Corvus Corax im streng mediävistischen Sinn nicht authentisch, doch benutzt die Band stets originale Vorlagen, um sie – mal mehr, mal weniger frei – zu interpretieren. So hat die Neuvertonung der Carmina Burana über zweieinhalb Jahre gedauert, bewusst haben sich die Musiker bei ihrer Version der Vagantendichtung nicht an der bekannten Vorlage von Carl Orff orientiert.

„Schon zu unseren Anfängen noch in der DDR haben wir viel Zeit in Bibliotheken verbracht und dort alte Handschriften ausgegraben“, erzählt Dobbrisch. Damals interessierte sie besonders das weltliche Liedgut, das nicht nur von „Wein, Weib und Gesang“ handelt, sondern oft auch Kirchen- und Sozialkritik übt: „Wir empfinden diese Texte als sehr modern – noch heute machen die wenigen an der Spitze mit der Masse des Volkes oft, was sie wollen“, so Dobbrisch.

Mit kritischen Augen das beobachten, was in der Gesellschaft vorgeht und nach eigenen Wegen suchen war etwas, was Liehm und Dobbrisch, die 1985 in Berlin Freunde wurden, schon früh lernten. „Für mich klingt es immer etwas nach Ausrede, wenn jemand behauptet, man habe in der DDR nichts machen können“, sagt Dobbrisch. Als junger Musiker hätte man quasi sowieso stets mit einem Bein im Knast gestanden, so der 42-Jährige. Vor allem, wenn man dem von oben verordneten Fortschrittsoptimismus einen Stil entgegensetzte, der sich durch archaische Gesten, Volkstümlichkeit und die lateinische Sprache im Außerzeitlichen verankerte und sich so der politischen Vereinnahmung zu widersetzen suchte. Dobbrisch selbst ist damals viel nach Osteuropa gereist und hat in Ungarn und Rumänien bei erfahrenen Meistern von der Pike auf klassischen Instrumentenbau gelernt. Ein Erfahrungsschatz, von dem er bis heute profitiert: Vor kurzem hat er die größte Drehleier der Welt gebaut, deren steinernes Vorbild in der Kathedrale von Santiago de Compostela steht.

Im Herbst 1989 flüchteten Liehm und Dobbrisch aus der DDR und mussten dabei ihren Kolkraben (lateinisch: Corvus Corax) zurücklassen. Nach dem Fall der Mauer kehrten sie dann bald nach Ost-Berlin zurück und traten in Prenzlauer Berg, wo beide heute noch leben, auf einem der ersten Mittelaltermärkte im wiedervereinten Deutschland erstmals unter ihrem heute bekannten Namen auf. „Die wollten uns damals in Strumpfhosen sehen – da haben wir lieber halbnackt gespielt“, erzählt Liehm. Eine in den Augen der Forschung kaum akzeptable Kleiderordnung, die Corvus Corax zur Freude vieler weiblicher Fans aber bis heute pflegen.

Zitadelle Spandau, 19.30 Uhr.

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