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Schein & Sein: Eine schrecklich nette Familie

Die Popband Pur hat ihren Ruf weg: gefühlig, schwäbisch, harmlos. Ihr neues Album feierte sie mit Fans in einem Club auf Zypern. Unser Autor hat sich vor dieser Reise gefürchtet.

Als ich den Auftrag bekam, mit der schwäbischen Band Pur und 500 ihrer treuesten Fans nach Zypern zu fliegen, um das neue Album „Schein & Sein“ kennenzulernen, nahm ich gewohnheitsmäßig ein leeres Stück Papier, notierte darauf den vorläufigen Arbeitstitel, also das, was mich höchstwahrscheinlich auf der Reise erwarten würde, und klebte den Zettel zur Erinnerung an die Wand. Auf ihm stand: „Vier Tage Fegefeuer“.

Es fällt leicht, diese Band zu verachten. Meine Freunde tun es, meine Geschwister, die meisten Kollegen. Das deutsche Feuilleton hat in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Menge Energie darauf verwendet, Pur zu demütigen: Mal wurden sie als „Problemwälztruppe“ verhöhnt, mal als „nervtötend einfühlsam“ oder als „Band für Leute, die sich nicht für Musik interessieren“. Wer Argumente zur Untermauerung seiner Abneigung brauchte, musste bloß einen ihrer schnulzigen Liedtexte zitieren, zum Beispiel: „Du blitzt mich an mit deinen Funkelperlenaugen, das tut so gut, da ist so viel für mich drin.“

Andererseits muss es irgendwie auch möglich sein, Pur innig zu lieben. Sonst hätte die Band keine zwölf Millionen Alben verkauft. Ihre letzten sechs Platten landeten jeweils an der Spitze der Charts. Das haben die Toten Hosen bisher nicht geschafft.

Einer von denen, die Pur innig lieben, heißt Rudi. Freitagnachmittag sitzt er im Aldiana-Club auf der Terrasse des Strandcafés, vor sich die Südküste Zyperns, um sich herum Dutzende andere Pur-Fans. Die Novembersonne scheint auf Rudis Glatze. Später wird er sie drüben im Haupthaus bei der Autogrammstunde Martin hinhalten, dem Gitarristen von Pur, und der wird seinen schwarzen Edding zücken und mitten auf dem Schädel unterschreiben. Wenn Rudi gefragt wird, was er an Pur so sehr schätzt, dass er 1000 Euro bezahlt, um mit fünf Musikern und einer Fanhorde Cluburlaub zu machen, muss er nicht lange überlegen. Er sagt: „Pur ist die Band mit den Texten zum Gedankendrübermachen.“ Diese Texte schreibt Hartmut Engler, der Sänger. Er dichtet über Einsamkeit, über das erste graue Haar, über Freundschaften und Geburten, über Sinnsuche und Selbstzweifel. Immer wieder auch über Romantik: „Ich lieb’ mich bei dir, ich lieb’ mich an dir, ich lieb’ mich in Dir fest – wenn du mich nur lässt.“

Okay, das mag weichgespült klingen und manchen verschrecken, sagt Ralf am Nebentisch. Er ist der Fanbeauftragte der Band, hört ihre Songs seit 24 Jahren, und das, obwohl er eigentlich Heavy Metal mag. Als er damals Hartmut Engler kennenlernte, hielt er den „zuerst für einen Schlagerfuzzi“. Doch dann habe er die Gruppe live gesehen und bald bemerkt, dass Pur auch „brutalen Rock bieten“ könne, zumindest tief drinnen im Herzen. Man müsse sich als Zuhörer eben nur fallen lassen und eintauchen in das Meer aus Gefühlen. Ralfs Lieblingszeile: „Komm mit mir ins Abenteuerland, der Eintritt kostet den Verstand.“ Im Grunde sei genau dies die Essenz des Pur-Hörens, sagt Ralf: Rationalität aus, Emotion an.

Ein Ohrwurm nistet sich ein

Mit seiner Herzensband verhalte es sich wie mit der „Bild“: Offiziell wolle keiner mit ihr zu tun haben, aber insgeheim sei man doch angetan. Auf einem Freiluftkonzert traf er einmal den Betreiber eines bundesweit bekannten Heavy-Metal- Clubs, der Mann habe sich geschämt und behauptet, seine Freundin habe ihn mitgeschleppt. Wer’s glaubt. Den Namen des Clubs solle ich aber besser nicht in den Artikel schreiben, sagt Ralf, das käme sonst einem Zwangsouting gleich. Jeder müsse den Moment selbst bestimmen, in dem er sich zu Pur bekenne. Direkt vor Ralf wippen zwei Füße im Takt. Es sind meine. Seit der Ankunft auf Zypern quält mich ein Ohrwurm, es ist ein Lied von der neuen Platte, die diesen Freitag erschienen ist: „Ich will freiii sein, was heißt das? Sich treuuu sein, wie geht das? Ich leg die Beiiine hoch und lass jetzt erst mal looos.“ Richtig flotter Song, denke ich, das muss sich auch eingestehen, wer sonst lieber Garagenrock und Tocotronic hört. Ralf mag es auch, dieses Lied.

Man braucht nicht lange übers Clubgelände zu irren, bis man einen der Musiker trifft. Keyboarder Ingo spielt Tischtennis mit Fans, Gitarrist Martin schwitzt im Fitnessraum auf dem Fahrrad. Drei Mal am Tag reihen sie sich in die Buffetschlangen ein, und wenn sich Hartmut Engler nicht zwischen Gazpacho und Kartoffelsalat entscheiden kann, noch eine Runde dreht und sich am Ende doch lieber Reisnudeln mit scharfer Bohnensauce auf den Teller häuft, dann wagt es keiner, den Sänger zu stören. Unter uns gibt es keine Stalker, hat Ralf, der Fanbeauftragte, gesagt. Vielleicht abgesehen von den drei Frauen, die ihre Plastikliegen direkt vor die gelb gestrichenen Appartements am westlichen Ende des Clubareals geschoben haben. Dort sind die Musiker untergebracht.

Immerhin, die weißhaarige Monique hat sich getraut. In einer ruhigen Minute hat sie Hartmut gefragt, ob denn sein Sohn immer noch Crêpes mit Nutella möge. Der Sänger war verdutzt, aber dann verriet Monique, sie sei die Betreiberin des Crêpes-Standes auf dem Marktplatz, den Engler regelmäßig besucht, zu Hause in Bietingheim-Bissingen, 20 Kilometer nördlich von Stuttgart. Alle Pur-Mitglieder sind dort aufgewachsen, und alle sind bis heute geblieben.

Anfang der 80er Jahre hieß die Gruppe noch anders. Als „Opus“ tourte die ehemalige Schülerband durch baden-württembergische Dorfdiskotheken. Bis plötzlich eine andere Gruppe gleichen Namens auftauchte und mit dem Hit „Live is life“ weltberühmt wurde. Als dann 900 Leute in einen kleinen Saal drängten, wusste Hartmut: Die sind nicht wegen uns gekommen. Die nehmen uns die Bühne auseinander, wenn wir nicht „Live is life“ spielen! Die anderen Opus kennt heute keiner mehr.

Für den dritten Abend auf Zypern haben sich Pur etwas ausgedacht. Die Musiker ziehen sich Kochmützen auf und bereiten für alle das Abendessen vor. Hartmut Engler versucht, Wachteleier mit Kaviar zu bestreichen und dann noch ein bisschen Rosmarin draufzustreuen. Seine Hand zittert, wahrscheinlich deswegen, weil neben ihm Renato Manzi steht und zuguckt, ein Sternekoch aus der Pfalz. Früher fand Renato Pur nicht so toll. Bis er einmal „Lena“ hörte, da war es um ihn geschehen. „Lena, wie ein klarer warmer Wind, wenn die Tage stürmisch sind, lass ich mich zu dir treiben, Seelen aneinander reiben.“ Klingt unglaublich kitschig, denke ich und murmele: „Ich will freiii sein, was heißt das? Sich treuuu sein, wie geht das? Ich leg die Beiiine hoch und lass jetzt erst mal looos.“ Sternekoch Renato hat eine ungewöhnlich große Nase, und Hartmut Engler findet, sie ähnele seiner eigenen, die ist ebenfalls groß und gilt als eines seiner Markenzeichen. Von den beiden anderen, Vokuhila-Frisur und Riesenohrring, hat er sich inzwischen getrennt.

Mit diesen Nasen könnten wir Brüder sein, sagt Hartmut zu dem Sternekoch. Dann schlägt er vor, sich ganz dicht frontal gegenüberzustellen, Nase an Nase, und ein Foto zu machen. Eitel sind sie nicht bei Pur.

Mit Hartmut unter vier Augen

Wenn diese Band schon nicht die wildeste und auch nicht die avantgardistische Deutschlands ist, will sie dann wenigstens die ehrlichste sein? Und haben sie am Ende genau deshalb zu dieser Reise geladen: um zu demonstrieren, dass sie sogar im Urlaub, dem Inbegriff des Privaten, ihren Fans nichts vorgaukeln müssen?

Mal gucken, was Hartmut dazu sagt.

Wir treffen uns zum Interview in Zimmer 3001. Bevor der Sänger auf der Couch Platz nimmt, bittet er, die Klimaanlage abzustellen. Hartmut hat Angst um seine Stimme, schließlich steht noch ein Konzert an. Wir sind, wer wir sind, sagt Hartmut, da sei nichts gespielt. Und nein, diese Reise diene nicht der Imagezementierung. „Wobei: Wenn ich jetzt mies drauf wäre, würde ich sicher nicht zur Bar rüberlaufen und es allen zeigen. Ich werde auf jeden Fall eine Woche freundlich sein.“ Hartmut behauptet auch, er akzeptiere, wenn jemand seine Musik ablehne. Es gebe da eben eine „emotionale Barriere“. Nur wer die überwinde, könne Gefallen finden an Pur. „Manchmal schaffen wir es, jemanden umzupolen.“

Eine Frage noch: „Herr Engler, ich leide unter einem Ohrwurm von Pur. Wie werde ich den wieder los?“

Der gehe von selbst, sagt der Sänger mit unfassbar sanfter Stimme. Einfach wirken lassen und noch ein- oder zweimal träumen, dann verschwinde er.

Samstagabend stehen Pur auf der Bühne des Clubtheaters und spielen die neuen Songs. Die meisten Gäste können bei jedem Lied wenigstens eine Strophe mitsingen, die Band hat vorab Ausschnitte ins Internet gestellt. Einige Fans haben Knicklichter dabei, die Masse tanzt, ein Stuhl fällt um. Auch die mitgereisten Journalisten strahlen. Unsere emotionalen Barrieren sind längst durchbrochen. Ich fürchte, ich bin umgepolt.

Sogar das Stück, das Hartmut für seine Katze Lucy schrieb, wird bejubelt. „Du bist bei mir… Du schmiegst dich an, und ich kraul dich dafür.“ Lucy ist die allerbeste Katze der Welt, sagt Hartmut auf der Bühne. Wenn dies hier eine große Lüge ist, eine reine PR-Masche, ein Tropical Islands der Träume, dann ist sie zumindest perfekt inszeniert.

Für den allerletzten Abend haben sich Pur schon wieder etwas ausgedacht. Die Musiker stehen am Eingang des Speisesaals, und jeder Gast, der eintrifft, wird ausgiebig beklatscht. Sehr viel später, nach Essen und dem Feuerwerk, hockt Gitarrist Martin an der Poolbar und erzählt, es störe ihn ein wenig, dass sie in den Medien immer als die harmlosen Deppen aus Bietingheim-Bissingen dargestellt werden, die Ärzte dagegen stets als „die lustigen Typen“. Und dann geht Hartmut rüber zu Alexandra aus Düsseldorf und umarmt sie, weil sie Geburtstag hat. Er gibt ihr einen Wangenkuss. Ich lege mich fest: Diese Männer tun nicht nur so nett, die sind so. Und das berührt.

Auf dem Heimflug überlege ich, wem ich wohl alles erzählen kann, was ich gelernt habe: dass es nicht auf die richtige Haltung ankommt, nicht auf Coolness, nicht auf Fassade. Dass nur die Herzlichkeit zählt, und dass ich auf Zypern die schönsten Tage dieses Jahres verbracht habe. Ob ich genug Mumm habe, mein Leben zu ändern?

Am Flughafen Schönefeld holt mich meine Schwester ab.  „Wie war es?“, fragt sie. – „Ach, geht so.“

Das Album „Schein & Sein“ ist gerade bei Universal erschienen.

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