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© Chemical Underground

Soundcheck Award: The Phantom Band: Verdichtung und Wahrheit

Das beste Album 2009: The Phantom Band aus Glasgow gewinnen den Soundcheck Award. Den Preis verleihen der Tagesspiegel und Radioeins.

Wie bei Flüssen oft ein Rätsel bleibt, wo ihre Quelle ist, liegt auch der Ursprung der Phantom Band im Dunkeln. Vage wird er von den Mitgliedern selbst auf 2005 datiert. Aber ob sie damals schon eine Band darstellten und das, was sie mit ihren Instrumenten taten, wirklich Musik war, darüber gehen die Meinungen auseinander. „Jemand hat über das erste Konzert gesagt, an dem ich beteiligt war“, meint Keyboarder Andy Wake, „es habe geklungen wie eine Garderobe voller Mäntel, in der die Ständer durcheinanderrollen.“ Und Gitarrist Duncan Marquiss pflichtet bei: „Lange funktionierte unsere Musik überhaupt nicht.“

Nichtsdestotrotz, auch das lehren Flüsse, kann etwas ohne richtigen Anfang zu einem mächtigen Strom werden, indem es sich unablässig aus kräftigen Zuflüssen speist. Und die verlieren ihre Namen an den Hauptarm, auch wenn der sich in Wirklichkeit aus unterschiedlichsten Adern zusammensetzt. „Zunächst trafen wir uns, um gemeinsam abzuhängen, Musik zu machen und betrunken zu werden“, sagt Marquiss mit schwer rollendem R, das seine schottische Herkunft verrät. Alle sechs Phantoms sind gebürtige Schotten. Sie kennen sich zum Teil aus Schulzeiten und geben Orte wie Aboyne und Alford als ihre Heimat an. Zum Studium gingen sie nach Glasgow, wo Marquiss die Kunsthochschule besuchte.

„Unsere Konzerte“, sagt er heute, „hörten sich zunächst wie öffentliche Proben von ein paar Typen an, die sich auf nichts einigen konnten.“ Fünf Jahre verbrachte das Individualisten-Ensemble mit quälenden Diskussionen darüber, wie sie sich nennen wollten. Sie versuchten es mit Tower of Girls, Robert Redford oder Los Crazy Boys. So schnell wechselten die Bandnamen, dass sie bald selbst nicht mehr wussten, wer sie waren. „Es lag für uns auf der Hand, immer wieder neue Namen zu finden, praktisch für jeden Auftritt einen neuen“, erklärt Marquiss am Telefon. „Wir dachten, dass wir mit dem Namenswechsel auch alles Schlechte und Unfertige abschütteln könnten, das uns aufhielt. Aber das war ein Irrtum.“

Als Anfang des vergangenen Jahres das Debüt einer Formation namens The Phantom Band auf dem renommierten Chemical Underground-Label erschien, war das Erstaunen groß. Kritiker in England und auch in Deutschland waren voll des Lobes über „Checkmate Savage“, ein beinahe zum Bersten mit Ideen gefülltes Album, dessen Songs bis zu neun Minuten dauerten. Nichts deutete auf die aufreibende Vorgeschichte hin, die aus der sauffreudigen Freundesclique eines halben Dutzend 30-Jähriger eine der spannendsten Rockbands der Gegenwart hatte hervorgehen lassen. Bis heute, ein Jahr nach Erscheinen von „Checkmate Savage“, ist kein überzeugender Begriff für das ausufernde, stilistisch unzuverlässige und hoch dynamische Gelärme der selbst erklärten Rockband gefunden. „Proto-Robofolk“ ist ihre eigene Wortschöpfung. Nicht, dass sie sich weigerten, auf etwas festgelegt zu werden. Sie können es nicht.

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Stimmzettel der Bandwahl -

© Mike Wolff

Eine bratzende, stoisch humpelnde Synthesizer-Figur, dazu ein auf Ordnung bedachtes Schlagzeug. So hebt „The Howling“ an, ein todesschwangerer Abgesang auf die eigenen Dämonen, der in der warmen Stimme von Bartträger Rick Anthony stürmische Seelenwinde entfacht. Der Song wird bis zu seinem Ausklang sechseinhalb Minuten später nicht mehr zur Ruhe kommen. Bald mischen sich nervöse Gitarren in den Krautrock-Beat, und untergründige Strudel drücken die Musik in eine andere, hymnische Richtung.

Wegen dieser unfassbar präsenten Gleichzeitigkeit der Stile gehörte das Newcomer-Album der Spätberufenen von Anfang an zu den Favoriten für den in diesem Jahr erstmals verliehenen Soundcheck Award. Er geht aus der gleichnamige Kritikerrunde bei Radioeins hervor, die seit drei Jahren in Zusammenarbeit mit dem Tagesspiegel ausgestrahlt wird und über aktuelle Neurscheinungen debattiert. Im Laufe eines Jahres werden so über 200 Alben von dem in wechselnder Besetzung tagenden „musikalischen Quartett“ behandelt. Und es kommt selten vor, dass sich alle vier Kritiker auf ein Album verständigen können. „Checkmate Savage“ zählte zu den 16 Platten, die 2009 einhellig als „Hit“ bewertet worden waren. Damit war sie automatisch nominiert für den Soundcheck Award, der nach dem Willen seiner Stifter Tagesspiegel und Radioeins an das „beste Album des Jahres“ verliehen wird.

Nachdem ein Wahlgremium aus 38 Kritikern, Musikern und Labelmachern in einem zweiten Findungsschritt die Finalisten bestimmte, hat schließlich eine achtköpfige, aus Mitarbeitern von Radioeins und Tagesspiegel zusammengesetzte Jury ihr Urteil gefällt. The Phantom Band setzte sich gegen The XX, Grizzly Bear und Blakroc durch. Den Ausschlag gab der außergewöhnlich hohe Grad an geistiger und musikalischer Freiheit, der das Sextett auch als zukunftsweisendes Modell für ein Überleben im sich auflösenden Tonträgermarkt empfiehlt. Statt in Genres und historisch aufeinanderfolgenden Moden zu denken, werden sämtliche Einflüsse, die das iPod-Zeitalter anbietet, auf einmal zusammengezwungen.

Songs wie „Folk Song Oblivion“, „Left Hand Wave“ und „Island“ funktionieren wie Staustufen. Denn Kompositionen der Phantom Band sind das Ergebnis endloser Jam-Sessions, die mitgeschnitten und nach Brauchbarem abgesucht werden. „Dabei kommt es vor“, wie Marquiss sagt, „dass einer ein Funk-Riff spielt, sein Nebenmann aber ganz sicher ist, einen Bluegrassbeat beisteuern zu müssen.“ Kein Wunder, dass Marquiss, der derzeit mit seinen Kollegen an den Aufnahmen des zweiten Albums arbeitet, nicht sagen kann, wie es weitergehen wird. Und er fügt hinzu: „Kreative Leute sind oft Kontrollfreaks. Das macht den Umgang mit ihnen so schwierig. Vor allem, wenn mehrere Leute Kontrollfreaks sind.“

Die Verleihung des Soundcheck Awards findet am 26. Februar im Lido statt, ab 21 Uhr. Das anschließende Konzert der Preisträger wird live von Radioeins übertragen.

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