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Kultur: Post Scriptum

Schöne Grüße per SMS. Und wo bleibt die Ansichtskarte? Notizen von einem aussterbenden Medium

SAMMELSURIUM

Ich geb’s ja zu: Ich bin postkartensüchtig. Und wie jeder Süchtige weiß ich längst nicht mehr, warum. 222 Postkarten in 22 Jahren, das geht eigentlich noch, aber trotzdem: Wer hortet schon 222 unbeschriebene Postkarten in seinem Schreibtisch, selten angerührt, aber immer griffbereit? San Francisco by night. Heuhocken in Zakopane. Das römische Pantheon in Schwarz-Weiß. Finnische Regenbogen. Der Hauptbahnhof von Breslau, auch by night. Die Badeanstalt von Cadiz. Die Fußgängerzone von Bardejov, Ostslowakei. Bernd Maywalds Saalower Bockwindmühle, Luftaufnahme. Das Hotel Melia Cohiba in Havanna, huch, schon wieder by night – sollte ich auch noch ein By-Night-Messie sein?

Geständnis: Ich kauf die am Kiosk und weiß schon, die verschickst du nie (oder nur ausnahmsweise). Die sind einfach da, um da zu sein, und werden immer noch mehr. Meine Souvenirs (statt Bierseidel oder Schlüsselanhänger). Mein Realienschnappschussmagazin. Mein nie angelegtes Fotoalbum. Mein Sommerseelensammelsurium. Hier hast du mal gelebt. Hier war mal euer Pensionsfensterchen (ansonsten taugt die Karte aus Mèze nix). Hier willst du mal wieder hin. Hier bist du irgendwie geblieben für immer. Und hier. Und hier ...Ob mir was fehlen würde ohne dieses Stapelchen? Aber neindoch, ziemlich kaum was.

KARRIEREBLOCK

An Ansichtskarten war in Venedig kein Mangel. Eine besonders kitschige schickte ich dem Freund und kündigte sensationelle eigene Fotografien an. Zehn Tage später lag vor uns eine Auswahl meiner Aufnahmen. Licht und Schatten, Nebel und Wellen waren mir wohl gesonnen gewesen, Melancholie und Todesverfallenheit der bröckelnden Dogen-Stadt erstanden in 10 mal 15 Zentimeter wieder auf. Canaletto in Schwarz-Weiß: ein ästhetischer Hochgenuss, zu dem neben der Gunst des Augenblicks auch ein wenig die Kunst des Fotografen beigetragen hatte.

Ich lehnte mich in Erwartung des fälligen Lobes entspannt zurück. Der Freund erfreute sich auch an den Fotografien. Er drehte und wendete sie, kommentierte Gestaltung und Bildaufbau. Doch dann stand er auf, suchte in einer Schublade, entnahm ihr einen Stapel Postkarten und drückte sie mir in die Hand. Postkarten! Sie zeigten Venedig in Schwarz-Weiß. Nicht nur ihre Motive kannte ich. Auch ihre Perspektive, ihr Licht, ihre Wellen. Der Freund hob sein Weinglas und prophezeite mir, was sich jeder Künstler wünsche: Millionenauflagen, weltweite Anerkennung. So begann meine Karriere als Fotograf – und so endete sie. Jörg Plath

KÜNSTLERPECH

Eine beliebige Kunsthistorikerexkursion, volles Programm, der Zeitplan eng, die immer gleiche Szene spielt sich ab: Ob Kirche, Schloss oder Museum, man ist schnell durch mit der Besichtigung. Doch dann, am Ausgang, wartet: der Souvenirshop. Postkarten. Dias. Kataloge. Die ganze Gruppe wühlt und wühlt, halbstundenlang: zu Hause wartet das Archiv. Doch Künstlerpech – nie ist die richtige Postkarte da. Das Lieblingsbild, der noch unbekannte Meister, das Detail aus dem Altarretabel, der Blick von außen auf Apsis und Turm: Alles, was gerade wichtig geworden war, die Entdeckung, die Erkenntnis, das Erweckungserlebnis vor Ort – kann nicht dokumentiert werden. Bleibt Erinnerung. Und verblasst spätestens am übernächsten Ort. Am schlimmsten ist es in Italien, dem Paradiesland der Kunst: Da fehlen Postkarten oft ganz, findet man, in der Dorfkirche, eine SchwarzWeißaufnahme, wenn’s hochkommt, oft nichts. Fährt tagelang durchs Land und sucht und sucht. Und die geheime Botschaft, die eben nur diese eine, spezielle Postkarte dem Adressaten hätte übermitteln können: bleibt ungesagt. Und wird vergessen. Christina Tilmann

FELDPOST

Die Postkarte vom Oberkommando der deutschen Wehrmacht zeigt junge Männer in feldgrauer Uniform. Sie sitzen an einem kargen Tisch. Irgendwo an der Ostfront gehen vielleicht über den Gräben die Stahlgewitter nieder, aber hier in der warmen Stube beschäftigen sich die Soldaten mit friedlicher Handarbeit: mit der Stopfnadel. Darunter steht der Slogan: „Auch beim Strümpfestopfen ein Mann.“ Ein Motto, das man sich auf die Koppelschlösser der Armee geprägt wünschte.

Feldpostkarten zeigen auch heute noch den Krieg als Urlaubsreise. Schmucke Uniformen, alle Waffengattungen Arm in Arm, Landschaftsidyllen. Die DHL, eine Tochter der Deutschen Post, erhielt 2003 den Auftrag, 50 Tonnen Post zu Stützpunkten im Irak zu befördern. Und die US-Armee ließ Feldpost veröffentlichen, in denen Soldaten ihre Erlebnisse in schönsten Farben ausmalen: Alles nicht so schlimm. Leider kam heraus, dass die Briefe gefälscht waren. Das wahre Gesicht des Krieges wird heute per Video-Handy aufgezeichnet und als MMS in die Heimat geschickt – auch im Irak. Die Zensur hat es schwer in Zeiten von SMS. Bodo Mrozek

PHILOSOPHISCH

Das Medium ist die Botschaft. Der Aphorismus von Marshall McLuhan gilt nicht nur für uns Fernsehende, die wir täglich ein paar Stunden zappender Weise über das Alles und Nichts der Welt meditieren wie andernorts Buddhisten über eine Lotusblüte. Nein, er gilt auch für unsere Geistesathleten, die Philosophen. An ihren Medien sollt ihr sie erkennen! Adorno zum Beispiel bevorzugte die Flaschenpost. Die moderne Philosophie (also seine) habe „alle Dunkelheit und Schuld der Welt auf sich genommen. All ihr Glück hat sie daran, das Unglück zu erkennen ... Sie ist die wahre Flaschenpost.“ Man darf es heute aussprechen: Die Post ist Adornos selbstkomponierte Musik, auf die er so stolz war, und die Flasche ist – seine Philosophie. Derrida hingegen bevorzugte die Postkarte: Hier deutet sich der Familienkrach nur zwischen den Zeilen an: Das Wetter ist schön. Wish you were here. Für Derrida ist die Philosophie ein ewiges Postkarten-Gespräch durch die Zeiten. Die Philosophie nimmt nichts auf sich, opfert sich nicht. Sie imitiert nicht die Katastrophen, von denen sie zwischen den Zeilen redet. Sie bleibt nüchtern, sie bleibt ganz Postkarte. Derrida hat einen Roman geschrieben, keinen Briefroman, sondern eben einen Postkartenroman: „Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits“ (1980). Wir sind die Adressaten. Derridas diskrete Utopie: Ferien für immer. Marius Meller

ZUCKERHÜTL

Jeder Mensch, soll der Philosoph Schelling einmal gesagt haben, denke in seinem Leben nur einen wirklichen Gedanken, und von diesem ginge alles aus. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Was ich allerdings weiß, ist, dass meine Mutter mir seit 40 Jahren ein und dieselbe Postkarte schreibt. Das heißt, es sind natürlich unendlich viele verschiedene Postkarten. Im Schelling’schen Sinne jedoch, dass das Denken wie das Postkartenschreiben keineswegs in der Pluralität wurzelt, ist es doch immer nur – die eine. Was wären meine Sommer arm ohne sie.

Vorne drauf: Berge. Der „Predigtstuhl“ im Wilden Kaiser, „Frau Hitt“ im Karwendel, das „Zuckerhütl“ in den Stubaiern. Nachtschwarze Felsen, viel Himmelblau und Gletscher soo weiß. Gerne auch Gipfelkreuze. Sonnige Matten. Gämsen mit Knopfaugen. Hinten drauf, groß: „Mei, schee!!“ Darunter, kleiner, ob es auf der Hütte einen Marillenbrand gegeben habe oder einen Enzian. Keine Routen, keine Seillängen, keine Gehzeiten, kein Wetter. Dazu muss man wissen, dass meine Mutter des dialektfreien Sprechens sehr wohl mächtig ist und in einer alpenländisch vollkommen unverdächtigen Stadt am Meer geboren wurde, sozusagen auf Höhenmeter nullkommanullnull.

Was sie mir damit sagen will? Worüber der Mensch nicht reden könne, weil es zu schön sei, soll er schweigen. Und: Das Ziel ist das Ziel. Christine Lemke-Matwey

HANDSCHRIFT

Die erste Postkarte von meiner Tochter. Krakelige runde Buchstaben, große Lettern, paar Schreibfehler, guck mal, ich bin erwachsen. Freund A. ist ein paar Jahrzehnte älter, er schreibt mit windschiefer Kinderschrift. Wenn ich sie sehe, denke ich daran, dass er sich von Schokolade ernährt und weder Kaffee noch Alkohol trinkt. Freundin M. gestaltet ihre Karten formwunderschön: Grüße aus der Designer-Werkstatt. Herrje, sie ist immer noch so ordentlich. Mein Bruder platziert mit winzigen Worten halbe Romane auf die paar Quadratzentimeter, umrundet mit dem Schlusssatz die Adresse, packt kopfüber noch ein PS neben die Briefmarke. Es kostet mich Tage, seine Zeilen zu entziffern. Hab ihn schon als Kind nie richtig verstanden. Die anderen schicken Urlaubsgrüße per SMS oder E-Mail. Ich freue mich – und lösche sie bald. Kein Geheimnis, keine Spur.

Mein Vater schreibt neuerdings mit dünnem Bleistift. Früher schrieb er mit dickem Füller. Sein Schriftbild wird blasser. Vielleicht will er mich an den Gedanken gewöhnen, dass er eines Tages verschwinden wird. Christiane Peitz

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