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Roy Andersson mit dem Goldenen Löwen der 71. Filmfestspiele Venedig.

© Reuters

Preisverleihung beim Filmfest Venedig: Mutige Entscheidung für Schweden-Groteske von Roy Andersson

Das Filmfest Venedig hat anders als Berlin und Cannes keinen flankierenden Filmmarkt. Deshalb setzt es besonders stark auf die Filmkunst. Die Preise der 71. Filmfestspiele würdigen das auf sehr kluge Weise.

Die Jury in Venedig hat Mut bewiesen. Der Goldene Löwe für eine philosophisch-absurde Komödie, für eine schwarze Groteske in bleichen Farben, für Roy Anderssons „A Pidgeon Sat on a Branch Reflecting On Existence“ aus Schweden, das ist ein klares Bekenntnis zur Filmkunst. Zu einem Kino jenseits des Mainstreams und zu einem Festival, das sich die Verteidigung eben dieser Filmkultur auf die Fahnen geschrieben hat. Dem entsprechen auch die zwei weiteren Hauptpreise, der Große Jury-Preis für Joshua Oppenheimers erschütternden Dokumentarfilm „The Look of Silence“ über die Opfer der Massenmorde im Indonesien der 60er Jahre und der Silberne Löwe für Regisseur Andrei Konchalovsky und seinen dokumentarischen Spielfilm „The Postman’s White Nights“ über vergessene Menschen im hohen Norden Russlands.

Ein runder, gelungener Jahrgang. Die 71. Filmfestspiele Venedig, die am Samstagabend mit der Löwen-Gala im Palazzo del Cinema zu Ende gingen, waren zu Beginn mit Kritik überhäuft worden. Weil wichtige Herbstproduktionen von Paul Thomas Andersson oder David Fincher auf den Festivals in Toronto, Telluride und New York laufen Am Schluss ist nicht mehr die Rede davon, dass die US-Konkurrenz Venedig den Rang abläuft. Denn der  klug programmierte Wettbewerb hatte von Anfang an dagegen gehalten, mit Filmen, die auf ein offenes, intelligentes, erwachsenes Publikum zielen. Und mit Diskussionen auf den Pressekonferenzen und dem Festivalgelände am Lido, die sich eben nicht um Marktwert, Marketing und potentielle Oscar-Anwärter drehten, sondern um die Suggestionskraft der Bilder, um überraschende, verstörende, quer zu den Konventionen stehende Erzählweisen.

Catherine Deneuve, Al Pacino, Ethan Hawke - und die Stars kommen auch

Es stimmt ja auch gar nicht, dass die Stars ausgeblieben wären. Über den roten Teppich vis-à-vis des Adria-Strands waren Milla Jovovich, Chiara Mastrioanni, Charlotte Gainsbourg und die göttliche Catherine Deneuve defiliert, Michael Keaton, Al Pacino, Willem Dafoe und Ethan Hawke.

Dass die Jury mit ihren Darstellerpreisen für Alba Rohrwacher und Adam Driver nicht die überragendsten Schauspieler des Festivals ausgezeichnet hat, mag dem Respekt vor dem Gastland Italien geschuldet sein. In „Hungry Hearts“ von Saverio Costanzo spielen sie ein junges italienisch-amerikanisches Ehepaar  in New York, dessen Glück nach der Geburt ihres ersten Kindes in eine Tragödie umschlägt. Die junge Mutter will ihr Baby vor der bösen Welt beschützen, verweigert deshalb jede gewöhnliche Nahrung: ein Reinheits-Wahn mit tödlichen Folgen. Mag auch sein, dass der deutsche Regisseur Philip Gröning als Mitglied der Jury seinen Einfluss geltend machte: Letztes Jahr hatte er mit seinem Gewalt-in-der-Ehe-Drama „Die Frau des Polizisten“ den Spezialpreis in Venedig gewonnen.

Fatih Akin ging leer aus

Es war ein politisches Festival, auch das hat die Jury auf denkbar kluge Weise gewürdigt. Die eher auf klassische Weise erzählenden Kriegsfilme dieses Jahrgangs, „The Cut“ von Fatih Akin, der Drohnen-Kriegsfilm „Good Kill“ oder auch der Algerienfilm „Loin des hommes“ gingen leer aus, zugunsten von Oppenheimers Dokumentarfilm, in dem der Bruder eines Opfers die Mörder von damals befragt, um festzustellen, dass sie bis heute keinerlei Unrechtsbewusstsein entwickelt haben. Und zugunsten von Konchalovskys poetischem Sozialdrama rund um den Kenozero-See nahe der finnischen Grenze, in dem ein Postbote seine Existenzgrundlage verliert, weil ihm der Außenbordmotor gestohlen wird. Bettelarme, im Stich gelassene Menschen, die sich allesamt selber spielen und die ihre Resignaton in Wodka ertränken oder tapfer ihr Tagwerk verrichten. In der Nähe des Dorfs geben die Russen in einer Militärbasis viel Geld für Space Shuttles aus.

Auch Roy Anderssons „A Pidgeon...“ ist auf den zweiten Blick ein hochpolitischer Film, fügt der schwedische Regisseur seinen Sketchen über Entfremdung und gestörte Kommunikation doch am Ende eine surreale Szene hinzu, die an die grausame Sklaven-Maschinerie der schwedischen Kolonialgeschichte erinnert.  

Schade nur, dass der überragende Eröffnungsfilm, Alejandro González Inárritus Schauspieler-Tragikomödie „Birdman“, von der Jury unter Leitung des französischen Filmkomponisten Alexandre Desplat übergangen wurde. „Birdman“ vereint die vermeintlichen Gegensätze, ist Arthouse und Popcorn zugleich: als Starkino mit Michael Keaton, Naomi Watts und Edward Norton und als verblüffend-raffinierte Reflexion über die Unterhaltungsindustrie des 21. Jahrhunderts. Ab 15. Januar bei uns in den Kinos.

Die Preise von Venedig auf einen Blick.

Goldener Löwe (Bester Film)

„A Pidgeon Sat on a Branch Reflecting On Existence“ von Roy Andersson, Schweden

Silberner Löwe (Beste Regie)

Andrei Konchalovsky für „The Postman’s White Nights“, Russland

Großer Preis der Jury

„The Look of Silence“ von Joshua Oppenheimer (GB, Dänemark, Finnland, Indonesien, Norwegen)

Coppa Volpi (Beste Darstellerin)

Alba Rohrwacher in „Hungry Hearts“, Italien

Coppa Volpi (Bester Darsteller)

Adam Driver in „Hungry Hearts“, Italien

Marcello-Mastrioanni-Preis für besten Nachwuchsschauspieler

Romain Paul in „Le dernier coup de marteau“, Frankreich

Bestes Drehbuch

Rakshan Banietemad für „Ghesseha (Tales)“, Iran

Spezialpreis der Jury

„Sivas“ von Kaan Müjdeci, Türkei

Die von der chinesischen Regisseurin Ann Hui geleitete Jury des Neben-Wettbewerbs Orrizonti vergab ebenfalls ihre Preise:

Bester Film

„Court“ von Chaitanya Tamhane, Indien

Beste Regie

Naji Abu Nowar für  „Theeb“, Jordanien, Vereinigte Arab. Emirate, Qatar, Großbritannien

Spezialpreis

„Belluscone. Una storia siciliana“ von Franco Maresco, Italien

Bester Kurzfilm

"Maryam" von Sidi Saleh, Indonesien

Bester Schauspieler

Emir Hadžihafizbegović  in „These Are the Rules“ von Ognjen Sviličić (F, Kroatien, Serbien, Mazedonien)

Weitere Preise:

Venedig-Preis „Luigi de Laurentiis“ für den besten Debütfilm

„Court“ von Chaitanya Tamhane, Indien

Preis der Fipresci (internationale Kritikervereinigung)

„The Look of Silence“ von Joshua Oppenheimer

Preis der Settimana della Critica

„No One’s Child“ von Vuk Rsumovic, Serbien

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