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Szene aus Flimms Uraufführungsinszenierung, die 2017 in Mailand erstmals zu sehen war.

© Clärchen und Matthias Baus

Premiere an der Berliner Staatsoper: Die unerträgliche Flamme

Musik des Sich-Verlierens: Jürgen Flimm inszeniert Salvatore Sciarrinos „Ti vedi, ti senti, mi perdo“. Es ist die letzte Premiere der Saison an der Berliner Staatsoper.

Die Berliner Opernsaison geht mit Stücken übers Warten zu Ende. In Rossinis „Il viaggo a Reims“ fehlen plötzlich Pferde und Kutschen, um einen Haufen europäischer Adliger dorthin zu bringen, wo sich die Welt von Stand trifft, zur Krönung nach Reims. Gestrandet in einem noblen Kurhotel ergeht sich eine Gesellschaft von gestern, die noch nicht bemerkt hat, dass ihre Zeit abgelaufen ist, in grotesken Scharmützeln und fadenscheinigen Amouren. In Salvatore Sciarrinos neuer Oper „Ti vedi, ti senti, mi perdo“, die die Berliner Staatsoper jetzt als deutsche Erstaufführung zeigt, wartet eine Truppe Musiker auf das Eintreffen des Komponisten Alessandro Stradella. Er soll ihre Aufführung mit einer neuen Arie adeln. Doch so lange die Proben in einem römischen Palast auch andauern, Stradella taucht nicht auf. Erst am Ende erfährt man: Er befand sich auf der Flucht, entging in Turin nur knapp einem Anschlag, wurde schließlich in Genua von Auftragskillern ermordet.

Im Warten verliert die Zeit ihren herrischen Zug, ihre nur behelfsmäßig konstruierte Linearität. Im Warten schimmert zwischen gestern und morgen zart das Individuum auf, zwischen Erinnerung und Erwartung, die jederzeit zu ein und demselben Traum gerinnen können. Und im Grunde genommen glimmt auch alle Leidenschaft im Warten, gegenüber dem alle Erfüllung immer nur ein schwer zu fassender Funke bleiben wird. Das Warten also ist unsere ungeteilte Aufmerksamkeit wert. Sciarrino, der 71-jährige Sizilianer, hat dafür ein hochfeines Vokabular gefunden, ein Wispern und Seufzen, ein kurzes Klanganschwellen und ein tiefes Luftholen. Bei ihm klingt die Flöte wie zufällig vom Wind geblasen, am Fagott sind es auf einmal die Klappen, die die Musik machen. Und immer scheint Sciarrinos Klanguniversum der Erregungszustände wie von unsichtbaren Wellen bewegt, ozeanisch unterspült, inmitten einer unentrinnbaren Drift.

„Ti vedi, ti senti, mi perdo“ („Dich sehen, dich spüren, mich verlieren“), im vergangenen November an der Mailänder Scala uraufgeführt, reißt einen Echoraum auf, der irgendwo zwischen dem Barock, in dem der umtriebige Komponist Stradella 1682 tatsächlich umgebracht wurde, und heute liegt. Ein für Sciarrino- Verhältnisse beinahe schon pompöses Orchester unter der umsichtigen, klangsinnlichen Leitung des jungen Dirigenten Maxime Pascal bevölkert den Graben, ein kleines Ensemble findet an den Seiten der Bühne Platz (das Gros der Staatskapelle spielt gerade Wagner in Buenos Aires). Eine Aufstellung, die auch musikhistorische Erkenntnisse reflektiert: Stradella gilt als Erfinder des concerto grosso, das Händel und Bach zur Vollendung geführt haben. Sciarrino fügt in seine Oper neu instrumentierte Kompositionen Stradellas ein, die von ganz weit her klingen und doch unmittelbar das Herz berühren wie seine Canzone mit den Zeilen „Verheimlichen lässt sich nicht, die unerträgliche Flamme. Dass ich mein Feuer verberge, ist ein Ding der Unmöglichkeit.“ Die Sänger, allen voran Laura Aikin, geben sich dem gerne hin.

Das wahre Problem liegt in der Inszenierung

Die Kantate, die die in verschwenderischen Pop-Barock (Kostüme: Ursula Kudrna) gewandete Truppe probt, handelt von der Macht der Musik und von Orpheus, ihrem Sänger. Er wurde von Bacchantinnen zerstückelt, weil er sich nach dem endgültigen Verlust Eurydikes völlig von der Liebe abwandte, ja sich sogar dazu verstieg, überaus abfällig über Frauen vor sich hinzuleiern. Stradella wurden seine enthemmten Leidenschaften zum Verhängnis, die ihn durch die Betten höchster Kreise führten. Es war aber nicht nur seine libertinäre Gesinnung, mit der er Rache auf sich zog. Stradella war wohl kein Mann, der den Dienstbotenaufgang benutzen wollte. So erscheint die erotische Entgrenzung verwoben mit der Selbstbehauptung als Künstler – ein typisches Sciarrino-Sujet: auf der Suche nach dem „Sich-Loslösen vor dem Sich-Verlieren“. Nur, dass die Erregungskurven in „Ti vedi, ti senti, mi perdo“ durch permanentes Grummeln des Donnerblechs früher abflachen als nötig.

Das wahre Problem aber liegt in der Mailänder Uraufführungsinszenierung von Jürgen Flimm, die nun auch an der Staatsoper zu sehen ist. Sie lässt bei diesem Komponisten der Stille keine einzige ruhige Minute auf der Bühne zu. Karikaturen von Figuren halten ein Theaterbrimborium am Laufen, das sich so auch über jedes x-beliebige Barock-Pasticcio stülpen lässt – vorausgesetzt, man ist zufrieden damit, dass es vor den Augen nur noch überspannt vor sich hin flimmert. Jetzt werden wieder welche sagen: Na, man kann ja darüber hinwegsehen! Allein, dann bräuchte es überhaupt kein Musiktheater, und außerdem: Es würde auch nichts nützen, denn Flimms finaler Regie-Zinnober erzeugt eine permanente Klangspur aus Pantinengetrappel, die Sciarrinos zarte Warteschleifen schier übertönt. Während dessen Werk von dem lebt, was man zu hören, was man zu sehen scheint, werden Auge und Ohr in der Staatsoper permanent zugestopft. Das ist schrecklich heutig und völlig gestrig zugleich: Sciarrinos neueste Oper wartet noch immer.

wieder am 9., 11., 13. und 15. Juli

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