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Spätromantische Dekadenz. Sara Jakubiak als Marietta im Kreise ihrer Verehrer.

© Iko Freese / drama-berlin.de

Premiere an der Komischen Oper: Niemals geht man so ganz

Geisterstunde: Robert Carsen inszeniert zum Auftakt der neuen Spielzeit Erich Wolfgang Korngolds „Die Tote Stadt“ an der Komischen Oper.

Nur ganz am Anfang spürt man ihn aus dem Orchestergraben aufsteigen, den „Vertigo“-Effekt: jenes Schwindelgefühl, das zum Selbstbetrug verleitet, eine unbezwingbare Angst vor dem Sturz, die ins Bodenlose führt. Unvorstellbar, dass Alfred Hitchcock und sein Filmkomponist Bernard Herrmann „Die tote Stadt“ nicht gekannt haben. 1920 gelang dem erst 23-jährigen Erich Wolfgang Korngold mit dieser Oper ein Sensationserfolg, nach seiner Flucht vor den Nazis schuf er den bis heute nachklingenden, klassischen Hollywood-Sound.

Wie „Vertigo“ kreist auch Korngolds Oper um männliche Schuld und den Versuch, das kurzgeschlossene Verhältnis von Tod und Liebe wieder in den Griff zu bekommen. Dazu muss das Bild der begehrten Frau vollständiger Kontrolle unterworfen werden. Ein ebenso hybrider wie in letzter Konsequenz tödlicher Ansatz, der rigoroser Durchfreudianisierung zum Trotz doch wieder beim traditionellen Erlösungsszenario der Oper landet: Die Frau wird geopfert für den dringend rettungsbedürftigen Mann.

Korngolds Opern zelebrieren das in einem unerhört süffigen Klanggewand, das in der Lage ist, im Grunde unverdauliches Gedankengut verführerisch immer wieder neu aufzufächern, Abwehrmechanismen zu lähmen, unser Bewusstsein zu hintergehen. Darin liegt ihre besondere Kraft: an Dinge der nächtlichen Welt zu rühren und dabei Glanz zu verbreiten. An der Deutschen Oper wurde im März „Das Wunder der Heliane“ ausgegraben, Korngold zweites großes Musiktheater, von Opernkritikern jüngst zur Entdeckung der Saison gekürt. Nun zieht die Komische Oper zum Auftakt ihrer neuen Spielzeit mit „Die tote Stadt“ nach.

Die Zwanziger als Spiegel fürs uns Heutige

Das setzt eine Linie fort, die mit Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ begann und Opernhits der zwanziger Jahre neu befragen will, von Komponisten, deren Werke nach 1933 von den Spielplänen verdrängt wurden. Doch als Wiedergutmachung will Intendant Barrie Kosky das nicht allein verstanden wissen. In der Behrenstraße glaubt man daran, dass die Kunst zwischen den Weltkriegen ein besonderes Gespür für gesellschaftliche Verwerfungen und unheilvolle Gedankenläufe besaß, mithin auch ein Spiegel sein kann für uns Heutige. Die TV-Serie „Babylon Berlin“, am Premierenabend der „Toten Stadt“ erstmals öffentlich-rechtlich ausgestrahlt, scheint da nicht fern.

Regisseur Robert Carsen verlegt bei seinem Debüt an der Komischen Oper die Handlung in die Entstehungszeit der Oper, weicht aber entgegen der zupackenden Kosky-Doktrin der Frage nach dem Ort der Handlung aus. In Brügge mit seiner von der Zukunft abgeschnittenen, verfallenden Pracht, so will es die Romanvorlage, lebt Paul allein für die Erinnerung an seine verstorbene Frau Marie. Er errichtet eine „Kirche des Gewesenen“ und wird ihr einsamer Priester, die Haare der Verstorbenen als Reliquie bewachend. Bis er die Marie zum Verwechseln ähnlich aussehende Marietta trifft, ebenso blond, aber bei Weitem nicht so hehr wie die erinnerte Tote (ganz in Hitchcocks Sinn). Ein erotisches, von Schuld gefurchtes Ringen beginnt, und Marietta geht nicht ohne Logik davon aus, als personifizierte Lust den Sieg über die kalten Memorabilien zu erringen, Paul ganz für sich zu gewinnen.

Der Geist der Komischen Oper ist Carsen schnurzpiepe

Ob Marietta überhaupt existiert und was mit ihr geschieht, lässt Korngold meisterlich im Unklaren. Seine Zuschauer werden Zeugen, wie Pauls Abschottung von der Welt plötzlich Risse bekommt, mit unabsehbaren Folgen. Carsen, 64, der in Berlin bislang an der Deutschen Oper inszeniert hat und dort in dieser Spielzeit Detlev Glanerts Fontane- Oper uraufführen wird, fährt dafür einige Standards aus seinem Regiefundus auf. Wie wenig sie verfangen, erkennt man daran, dass man sich bei jeder Ungenauigkeit fragt, ob das wohl etwas zu sagen hat. Hier ein vergessener Schal, da ein verrutschtes Laken: letztlich nur Sandkörner in einem ausgelatschten Bildgetriebe, in einem symbolistischen Echoraum aber auch Indiz dafür, dass Sorgfalt und Geistesgegenwart hier nicht die Szene beherrschen.

Sogar Koskys Unterhaltungsglittertänze kann man missbrauchen, wie Carsen in Pauls traumatischer Begegnung mit Mariettas Theaterwelt beweist – und damit zeigt, wie schnurzpiepe ihm der Geist der Komischen Oper ist.

Über Strecken sind nur Bläser und Schlagwerk zu hören

Unterdessen beginnt im Orchestergraben ein neues Kapitel: Ainars Rubikis dirigiert seine erste Premiere als Generalmusikdirektor. Dabei könnte man den Eindruck gewinnen, dass der 40-Jährige in Gedanken noch der vorherigen Produktion nachhängt, seinem Berliner Debüt-Erfolg mit Schostakowitschs „Die Nase“. In seinem Korngold-Klangbild jedenfalls treten die Streicher so weit zurück, dass man über Strecken eine Partitur für Bläser und Schlagwerk zu hören bekommt. Muskulös und drohend, eine gewaltbereite männliche Unterströmung, die hier oft ungehindert nach oben drängt und somit akustisch nicht mehr dem Unterbewussten zugeordnet werden kann.

Auch wenn das nicht ohne gewisse Stringenz bleibt – Verehrer von Korngolds vielschichtiger Instrumentationskunst schmerzt es. Die Netze an der Saaldecke sind aber nicht wegen Rubikis' stellenweise stucksprengender Interpretation aufgespannt worden. Vielmehr markieren sie den Sanierungsbedarf des bröckelnden Hauses und werden dort hängen, bis die Arbeiten irgendwann beginnen.

Sich gegen ein Korngold-Orchester durchzusetzen, ein derart kerniges zumal, stellt eine mörderische Aufgabe dar: Sara Jakubiak, gefeierte Heliane an der Deutschen Oper, hält nichts zurück: Sie liefert sich der schimärenhaften Marietta darstellerisch und stimmlich aus – und bleibt in ihrer Figurenzeichnung dennoch vorzeitig stecken, eingekeilt zwischen Carsens Indifferenz und Rubikis' Druck. Ales Briscein als Paul weiß sich dem nur durch ein vorauseilendes, wirklich nicht schönes Falsett zu entziehen. Erst ganz am Schluss lässt er mal locker, dann finden Text und Musik auf beinahe schwerelose Weise zusammen, berührt dieser sich windende Mann tatsächlich einmal. Zu spät, um die wahre Tragik des Abends abzuwenden: Von Koskys untrüglichem Gespür, wo und für wen hier Oper gemacht wird, bleibt in dieser atopischen Routineveranstaltung nichts übrig.

Wieder am 6., 14. und 31. Oktober.

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