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Heute komplett gentrifiziert: Am Kollwitzplatz in Berlin-Prenzlauer Berg.

© Thilo Rückeis

Prenzlauer Berg, heute und zur Wendezeit: Lutz Seilers "Enddorn" und das "Enddorn" in der Belforter Straße

Der Zustand der Zeitlosigkeit in Mitte und Prenzlauer Berg: Wie Wirklichkeit, Erinnerung und Literatur miteinander in Verbindung treten.

Es ist schön im Prenzlauer Berg, schön renoviert fast alle Häuser in der Rykestraße oder am Kollwitzplatz, in der Sredzkistraße oder der Immanuelkirchstraße. Schön gentrifiziert, könnte man boshaft sagen.

Wer durch die Straßen streift, muss viel Mühe aufwenden, um sich vorzustellen, dass das alles einmal ganz anders aussah: düsterer, heruntergekommener, kaputter.

Das war so vor der Wende, zur Zeit der Wende, ein paar Jahre danach. Klar, es gibt Überbleibsel, die Eindrücke aus der Vergangenheit vermitteln, zum Beispiel der „Seeblick“ in der Rykestraße oder das „Enddorn“ in der Belforter Straße.

Seiler schreibt über Läden wie "Assel" und "JoJo-Club"

Die „Enddorn“-Betreiber werben auf ihrer Website damit, „nix für Sojamilchtrinker und Biofanatiker“ zu sein: „Hier gibts noch rauchende und trinkende Einheimische und ab und an sogar echte Berliner.“

Als Erinnerungskatalysator funktioniert auch die Literatur, so wie aktuell der am 2. März erscheinende neue Roman von Lutz Seiler, „Stern 111“. Der spielt zur Wendezeit 1989/1990.

Einer der Helden des Romans ist Carl Bischoff, 26 Jahre alt. Carl stromert viel im Prenzlauer Berg herum, meist rund um den Wasserturm, und in Mitte, zwischen Tor- und Oranienburger Straße. Hier baut er einen Kellerladen zu einem Café aus, das Arbeiter-und Literaturcafé Assel, das es wirklich gab und das zu einer Mitte-Legende wurde.

Wohnen wiederum tut Carl in der Rykestraße 27, und er tummelt sich viel in der Besetzerszene, in Häusern, die nach den Straßen heißen, an denen sie liegen, Schönhauser 20, Schönhauser 5 etc.

Wer zu der Zeit in dieser Gegend real unterwegs war, gleicht das mit eigenen Erinnerungen ab. Schönhauser 5: Gab es in dem Haus nicht eine illegale Bar?

Auf Hiddensee war der Autor erstmals 1988

Dann der Jojo-Club in der Torstraße, damals noch Wilhelm-Pieckstraße, das Entrée von Seilers Helden – hatte man im Jojo nicht Blumfeld erstmals gesehen, und gab es da nicht einen langhaarigen Typen in Jeansjacke, der immer „mehr Gitarren“ schrie? War das 1990?

Nun dürfte Seilers Roman autobiografisch grundiert sein, so wie sein Aussteiger- und Hiddensee-Roman „Kruso“. Damals erklärte Seiler, 1988 erstmals auf der Insel gewesen zu sein. Er habe in einer Kneipe namens, genau: „Enddorn“ in Grieben im Norden der Insel gewohnt (der auch Enddorn genannt wird), und Saisonarbeiten verrichtet.

Doch unterscheiden sich seine Erinnerungen naturgemäß von denen anderer, sind sie bearbeitet und geformt: Literatur hat stets ihre eigene Wahrheit. Weshalb man sagen kann: Es war so in Mitte und Prenzlauer Berg so, wie in Seilers „Stern 111“. Und es war nicht so. In einen „Zustand der Zeitlosigkeit“ sei die Rykestraße übergangen, heißt es einmal, sie verbinde „ihre Bewohner direkt mit der Ewigkeit“.

Das gilt genauso für das Zusammenspiel von Wirklichkeit, Erinnerung und Literatur – und bezieht die weiterhin rauchenden, trinkenden Einheimischen im „Enddorn“ des Prenzlauer Bergs schön mit ein. Sollte dort irgendwann noch Lutz Seilers Hiddensee-Roman ausliegen, würde sich gar ein Kreis schließen.

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